Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Linksrutsch bei Labour: Aufschrei der Eliten
> Erst der Aufstand der Basis brachte den radikalen Wandel bei der Labour
> Party. Was die Linke vom Kampf gegen den Parteiapparat lernen kann.
Bild: Die Parteibasis wollte ihn: Labour-Chef Jeremy Corbyn
„Die Labour Party lässt sich jetzt von Gianis Varoufakis und dem
revolutionären Marxisten Paul Mason beraten; ich nehme an, auf die beiden
sind sie nur deshalb verfallen, weil Mao tot ist und Micky Maus gerade
woanders beschäftigt ist.“ Mit hochgezogener Oberlippe schmettert der
britische Schatzkanzler George Osborne die Kritik an der Wohnungsbaupolitik
seiner Regierung ab.
Verglichen mit den Sitten – und dem Lärm – im englischen Unterhaus geht es
im Bundestag eher bräsig zu: Vorletzte Woche gab es in Westminster Hall gar
ein Duell abwesender Mütter. Was seine Mutter dazu sage, wurde David
Cameron gefragt – die alte Dame hatte eine Resolution gegen die
Sozialkürzungen seiner Regierung unterschrieben.
„Meine Mutter?“, kam die Rückhand, „meine Mutter würde dem Herrn gegen�…
sagen: Besorg dir einen anständigen Anzug, zieh deine Krawatte hoch und
sing die Nationalhymne.“ Der Mann gegenüber, im zerknitterten braunen
Jackett, ist Jeremy Corbyn, der im vergangenen Jahr zum Labour-Chef gewählt
wurde.
England liegt zwar hinter dem Kanal, aber erstaunlich ist es schon, dass
Corbyn in unseren „Qualitätsmedien“ nicht vorkommt, und auch nicht in den
Diskursen der „Schwesterpartei“. Dabei müsste sein Erfolg einer SPD, die
entschlossen auf die 20-Prozent-Marke hinstrebt, eigentlich zu denken
geben. Alles lief in England 2015 auf einen regierungserfahrenen
Mitte-links-Kandidaten zu, bis ein paar ganz normale Parteimitglieder im
Frühling 2015 auf YouTube und Twitter die Botschaft verbreiteten, Labour
müsse sich als knallharte Antiausteritätspartei aufstellen, mit einem
linkssozialdemokratischen Profil.
Zehntausende enttäuschter Ausgetretener, Aktivisten aus sozialen
Bewegungen, Nichtwähler traten in die Partei ein oder ließen sich – für
drei Pfund – als Unterstützer mit Wahlberechtigung registrieren, viele
junge Leute darunter. Petitionen drängten die Labour-Parlamentarier, Corbyn
zu nominieren.
Die hielten nichts, aber auch gar nichts von dem Hinterbänkler, der seit 32
Jahren auf verlorenem linken Posten gestanden hatte, eine Art englischer
Ottmar Schreiner. Ein Politiker, der sich nicht nur durch seine Jacketts,
sondern durch seine freundliche Hartnäckigkeit und den Verzicht auf
Sprechblasen von den Grammar-School-Absolventen der politischen Elite
unterscheidet, jemand, der seit Jahrzehnten in sozialen Bewegungen aktiv
ist, einer der wenigen Abweichler, als die Labour Party den Sparhaushalt
der Konservativen absegnete.
Kaum kamen die 36 Stimmen aus der Fraktion zusammen, die ein Kandidat für
die Nominierung braucht; allenfalls sah das Parteiestablishment ihn als
Feigenblatt zur Beruhigung der Basis. Wer ein Herz für Corbyn habe, solle
ein Transplantationszentrum aufsuchen, polemisierte Tony Blair, und nicht
nur die Rechtspresse entfesselte eine Kampagne: Traumtänzer,
Sandalenträger, Vegetarier, Villen-Sozialist, Terroristenfreund, Populist
und was nicht alles.
## Putschgerüchte
Es nützte alles nichts, Corbyn wurde gewählt – bei Labour wählen alle
Mitglieder den Vorsitzenden. Seither, so die Autorin einer nicht gerade
freundlichen Biografie, reden Menschen über Politik, die es lange schon
aufgegeben hatten. Eine Katastrophe, tönte es alsbald aus den Reihen der
Parlamentsfraktion.
In den Zeitungen steht auch heute noch wenig über Corbyns politische
Vorstellungen, umso mehr über Putschgerüchte gegen dieses „Krebsgeschwür
einer nihilistischen Linken“, die alles, was England groß macht, „in den
Kot“ ziehe – so einer der letzten Kommentare des großen Liberalen Lord
Weidenfeld. Der musste allerdings noch zu Lebzeiten erleben, dass das House
of Lords, eine unerhörte Begebenheit, Camerons Haushalt zulasten der
ärmsten Familien ablehnte, mit der Warnung: so verliere das Volk das
Vertrauen in die Regierenden.
Eine erstaunliche Geschichte, dieser Aufstand der Basis gegen den
Parteiapparat und eine Revolte gegen das Dogma, Wahlen seien nur in der
Mitte zu gewinnen. Umso erstaunlicher – aber vielleicht bin ich eben immer
noch naiv –, dass man bei uns von dieser Geschichte nichts oder nur
possierliche bits and pieces lesen kann.
Immerhin zeigt sie doch, was möglich wird – aber auch, wie die Alarmglocken
der Eliten schrillen –, wenn eine soziale Bewegung das Internet nicht nur
nutzt, um Stimmen für Petitionen zu sammeln, sondern sich anschickt, eine
etablierte Partei zu erobern – gegen die Hegemonie eines sozial
übertünchten neoliberalen Narrativs, gegen eine veröffentlichte Meinung,
die Syriza, Podemos und die Labour-Linke auch bei uns argumentfrei mit dem
Stempel „populistisch“ abtut und sich mehr für Varoufakis’ Hemden und
Corbyns Krawatten interessiert als für die Alternativen, die sie
formulieren – oder zu formulieren beginnen.
## Ein neues Narrativ
„Wir müssen ein neues Narrativ unter die Leute bringen“, sagt Corbyns
wichtigster Partner, der Schattenschatzkanzler John McDonnell: Kritik an
Finanzmärkten und Austeritätspolitikern reiche nicht. Die Linke müsse ein
Steuerkonzept liefern, einen Umbau der Sozialsysteme und neue Formen des
Gemeineigentums propagieren, ein Konzept für die Zukunft guter und sicherer
Arbeitsplätze haben und für einen Staat, der nicht nur den Missbrauch der
Finanzmacht mildert, sondern selbst zum strategischen Investor wird.
Etwa so, wie es Mariana Mazzucato entworfen hat, deren Buch „Das Kapital
des Staates“ gerade von der Ebert-Stiftung preisgekrönt wurde. Sie ist eine
der Wirtschaftsexperten, die jetzt in den öffentlichen Seminaren der Labour
Party auftreten: Nobelpreisträger Joseph Stiglitz ist dabei, Gianis
Varoufakis, Thomas Piketty und Paul Mason, dessen Bestseller
„Postcapitalism“ eine Krisenanalyse mit der Skizze eines ultramodernen
demokratischen Sozialismus verbindet.
Die Facebook-Community, die Jeremy Corbyn an die Spitze der Labour Party
gebracht hat, wächst weiter, sie heißt jetzt „Momentum“ und wirkt von au�…
wie von innen in die alte Sozialdemokratie. Eine linke Geschichte? Ja, aber
ob sie ein auch nur rosarotes Happy-End haben wird, darüber entscheidet –
wie heißt es bei Marx – „das Kräfteverhältnis der Kämpfenden“.
30 Mar 2016
## AUTOREN
Mathias Greffrath
## TAGS
SPD
Labour Party
Jeremy Corbyn
Sozialdemokraten
Schwerpunkt Brexit
Kapitalismuskritik
Rechtspopulismus
Schwerpunkt Syrien
James Bond
SPD
Labour Party
Jeremy Corbyn
## ARTIKEL ZUM THEMA
Paul Mason über das EU-Referendum: „Nur ein linker Brexit macht Sinn“
Großbritannien sollte die EU verlassen – aber nur im Fall einer
Labour-Regierung, meint der Kapitalismuskritiker Paul Mason. Unter den
Tories droht der soziale Kahlschlag.
Paul Masons „Postkapitalismus“: Verleiht eure Rasenmäher
Die Linke ist gescheitert, die Abschaffung des Kapitalismus geht dennoch
voran, sagt Paul Mason. Er setzt auf Digitalisierung und Tauschsysteme.
Kolumne Leuchten der Menschheit: Die Drücker der Storno-Taste
Der Autor Klaus Werner-Lobo schreibt in seinem Buch, es würden immer
weniger Menschen wählen gehen. Doch neulich waren es wieder mehr.
Britische Beteiligung am Krieg in Syrien: Cameron darf auf Labour hoffen
Am Mittwoch entscheidet das Unterhaus über britische Luftangriffe auf den
IS in Syrien. Labour-Chef Corbyn hat für seine Partei den Fraktionszwang
aufgehoben.
Neuer James-Bond-Film „Spectre“: Bond würde David Cameron wählen
Spektakel geht nun mal vor Sinn: Der neue James-Bond-Film ist hemmungslos
in seiner opportunistischen Anpassung an den Zeitgeist.
Kommentar Gabriels Kanzlerkandidatur: Ein Sigmar ist kein Jeremy
Der SPD-Chef will also Kanzler werden. Dabei ist es sein „Verdienst“, dass
seine Partei wie eingemauert im 25-Prozent-Keller verharrt.
Labour-Parteitag in Großbritannien: Corbyn und die Liebe fürs Fair Play
In seiner ersten Rede als Labour-Chef beschwört Jeremy Corbyn die
britischen Werte. Der rechte Parteiflügel hat sich noch nicht mit ihm
abgefunden.
Kommentar über den neuen Labour-Chef: Rebell ohne eine Chance
Jeremy Corbyn verspricht höhere Sozialleistungen und gerechtere Steuern.
Doch in politischer Verantwortung hat er wenig Erfahrung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.