# taz.de -- Mobilitätsgeschichte: Ricardas blaue Flecken | |
> Im Steintor befinden sich die ältesten Radwege Deutschlands. Bremen hatte | |
> im 19. Jahrhundert eine Pionierrolle bei der Verbreitung der neuen | |
> revolutionären Fortbewegungsmethode | |
Bild: Mitglieder des norddeutschen Velocipedistenbundes in den 1880er Jahren | |
Herzog Tassilo von Baiern soll ganz entzückt gewesen sein, als er im 8. | |
Jahrhundert auf Reste von baiuwarischen Römerstraßen stieß, die sich noch | |
bereiten ließen. Ähnliche Gefühle können BremerInnen haben, wenn sie durch | |
die Linienstraße radeln: Der hellgraue Streifen in der Mitte des | |
Kopfsteinpflastes gehört zum ältesten Radwegenetz Deutschlands. Das belegen | |
Forschungen von Florian Nikolaus Reiß, die kürzlich im „Jahrbuch“ des | |
Staatsarchiv Bremen publiziert wurden. | |
Der Radweg in der Linienstraße entstand kurz vor der Wende zum 20. | |
Jahrhundert. Doch bevor er gebaut wurde, musste auch in Bremen manches | |
handfeste Akzeptanzproblem beseitigt werden. Noch Mitte der 1880er Jahre | |
gab es Bürgerschaftsabgeordnete, die die „vollkommen nutzlosen Maschinen“ | |
derart erbosten, dass sie vorbeifahrenden Hochradfahrern den Regenschirm in | |
die Speichen zu stecken pflegten. | |
Junge ausländische Kaufleute, vor allem Engländer und US-Amerikaner, hatten | |
die „neumodische Passion“, wie der „Courier“ vom 15. April 1869 das | |
Radfahren nannte, in die Stadt gebracht – übrigens noch keineswegs auf | |
modernen Hochrädern, sondern noch auf hölzernen „Michaulinen“, die keine | |
Bremsen besaßen. Pierre Michaux hatte seine Erfindung gerade mal zwei Jahre | |
zuvor auf der Pariser Weltausstellung der staunenden Öffentlichkeit | |
präsentiert. | |
Bremen, so hat es Reiß aus vielerlei Quellen und Archivakten rekonstruiert, | |
zeigte insbesondere in der Frühzeit des Radfahrens „eine erstaunliche | |
Offenheit und kreative Bereitschaft, das neue Verkehrsmittel auf seinen | |
Straßen und Wegen zu integrieren“. | |
Bremens allererste Radwege waren ausschließlich spendenfinanzierte | |
temporäre Projekte. Sie wurden aus Anlass des Bundestreffens des Deutschen | |
Radfahrer-Bundes 1897 im Bürgerpark angelegt und bestanden aus einer | |
Schicht fester Kohleschlacke, die mit gestampfter Erde und gewalztem feinem | |
Kies bedeckt wurden. Anschließend wurden Versuchsstrecken auf öffentlichen | |
Straßen angelegt, die die ideale Platzierung der Radstreifen klären | |
sollten: Während auf der Bismarckstraße zwei mittige, gut 30 Zentimeter | |
breite Streifen gebaut wurden, auf der sich entgegenkommende Radler nicht | |
in die Quere kamen, gab es am Osterdeich Seitenstreifen. Beides | |
funktionierte nur schlecht. | |
Am Osterdeich störten sie die vor den Häusern abgestellten Kutschen, die | |
Radwege auf der Bismarckstraße waren bald durch die Räder von Fuhrwerken | |
zerpflügt, die die Streifen als willkommene Spuren nutzten. Im Ergebnis | |
entschied sich die Stadt für das Modell einer einzigen mittleren Spur, wie | |
sie in der Berliner Straße, der Tauben- und der Linienstraße oder „Im | |
Winkel“ noch heute erhalten sind: Sie wurden 1898/99 gebaut und „gelten als | |
die frühesten in Deutschland“, schreibt Reiß. Das erregte reichsweit und | |
darüber hinaus Aufsehen. Anfragen aus Leipzig, Brandenburg und Linz trafen | |
in Bremen ein. | |
Die Stadt hatte sich nicht lumpen lassen und besonders glatte, aber auch | |
teure Mansfelder Kupferschlackesteine verwendet. Die entsprechenden Kosten | |
tauchen erstmals 1899 im städtischen Haushalt auf und führten zu regen | |
Diskussionen über eine Sondersteuer für Radfahrer. Der Senat beschloss | |
zunächst eine Abgabe von sechs Mark pro Rad, was im Vergleich zu einem | |
Pferd (je nach Verwendungszweck zwischen zehn und 40 Mark) oder einem | |
„Lustfuhrwerk (ebenfalls bis zu 40 Mark) recht moderat war – in Kraft trat | |
sie ohnehin nicht. | |
Reiß ordnet Bremen im Vergleich zu anderen Städten als ausgesprochen | |
fahrradfreundlich ein, was der Stadt „einen wichtigen Platz innerhalb einer | |
nationalen Fahrradgeschichte“ sichere. Während andernorts das Radfahren | |
komplett verboten wurde, erlaubte Bremen seinen BürgerInnen ausdrücklich | |
das Beradeln der Bürgersteige, bevor eigene Radwege gebaut wurden. | |
1979 wurde in Bremen der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) gegründet, | |
was Reiß als Wiederaufleben einer Bedeutung interpretiert, die die Stadt | |
als Schauplatz des Bundestreffens von 1897 gehabt habe. Damals wurde | |
proklamiert: „Wohl in keiner anderen Stadt Deutschlands sind die Radfahrer | |
so human behandelt worden wie hier in Bremen.“ Nur die Pflege des | |
historischen Radwege-Erbes hat zwischenzeitlich arg gelitten. | |
„Ich glaube, wenn alle Deutschen Rad führen, würden sie ihre dumpfe | |
Sinnlichkeit verlieren und schöner und glücklicher werden“, schrieb Ricarda | |
Huch 1897, nachdem sie in Bremen mit einiger Mühe – „mein hübscher weißer | |
Körper ist ganz voller blauer Flecke“ – das Radfahren gelernt hatte. Fünf | |
Jahre später beschloss die Bremer Polizeidirektion, dass alle Schutzmänner | |
das Hochradfahren zu erlernen hätten. Schöner sind sie dadurch nicht | |
geworden – aber immerhin verzichtete die Polizei wenig später, nun selbst | |
betroffen, auf die bis dahin gültige Nummernschildpflicht für Fahrräder. | |
20 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Henning Bleyl | |
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