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# taz.de -- Ricarda Huch wiedergelesen: Erfinderin der romantischen Medicin
> Das völkische Denken hat Ricarda Huch vorangebracht: Deshalb sollte man
> ihr Werk wiederlesen, bevor sie zum 75. Todestag drauflos gewürdig wird.
Bild: Gefeiert vor und nach 1945: Ricarda Huch aus Braunschweig war keine Nazi.…
Gründe, Ricarda Huch nicht wiederzulesen, gibt es viele: Die 1864 in
Braunschweig geborene Großschriftstellerin imponiert nur, solange man sich
nicht durch ihre moralisch verblüffend unterkomplexen Erzählungen quält.
Und Huch toll zu finden, erfordert, ihre Sachprosa, die eine
nationalistische und blutundbodensatte Gedankenwelt ausbreitet, strikt zu
ignorieren.
Nur dann ist es jenseits eines Racheakts möglich, eine „Poetikdozentur für
Gender in der literarischen Welt“ mit ihrem Namen zu belegen, [1][wie’s die
TU Braunschweig tut]. Denn Huchs Frauenbild… vergessen Sie’s! Wichtig ist
sie trotzdem: Ihr Oeuvre hat herausragende Wirkung entfaltet und das
völkische Denken vorangebracht.
Es wird noch heute in seriösen Verlagen aufgelegt. Gerade weil bald die
Würdigungen zum 75. Todestag am 17. 11. losgehen, tut also die
Auseinandersetzung mit ihm Not. Und es kann interessant sein, sich näher
mit seinem aggressiven Konservativismus zu befassen: Was kann er, wie
produziert er Schönheit und wo vermag er, Einsichten zu formulieren?
Bei Huch [2][geschieht das im zweibändigen Großessay] „Die Romantik.
Ausbreitung, Blütezeit und Verfall“ (1902). Sie hatte es in ihrer Zeit als
Lehrerin in Bremen angefangen zu schreiben. Und es bleibt eine Wegmarke als
erster Versuch, Romantik als radikale, alle Bereiche des Lebens erfassende
Bewegung zu würdigen.
## Beeindruckende Quellenkenntnis
Angesichts der damaligen Editionslage beeindruckt Huchs breite
Textkenntnis. Dank der zeigt sie, dass [3][Romantik weniger Entzaubertes
verzaubern], als im Gegenteil, ein Bewusstsein für ihr Verdrängtes, die
Nachtseiten der Erkenntnis propagieren will: „Ueber diesen Abgrund beugten
sich die Romantiker, lauschten hinunter“, schreibt sie. Aber „sie blieben
die bewußten Pfadfinder durch das dunkle Land des Unbewußten“, so Huch.
„Sie deuteten Mythologie, Märchen, Sage, Aberglauben, aber sie verirrten
sich nicht.“
Damit legt sie einerseits ein Machtpotenzial frei: Von ihren Urhebern
ungeglaubte Mythen und die Einsicht ins Unbewusste sind gefährliche
Herrschaftsinstrumente. Andererseits macht sie klar, wie spekulative
Naturphilosophie gerade als Antrieb empirischer Forschung gewirkt hat.
Eindringlich zeigt sie das auf einem Feld, das zuvor unbemerkt geblieben
war, und für das sie den Begriff der „romantischen Medicin“ prägt.
Anhand der Schriften von Dichter-Ärzten wie Justinus Kerner, der die
Methode des toxikologischen Tierversuchs systematisierte, umreißt sie es
als charakterisiert durch den Hang, „die Medicin als Kunst zu betrachten“.
Dazu gehören der Wunsch, sie dank Arzt-Genies in Religion zu überführen –
und ein ausgesprochener Monismus also „die Neigung, der Aerzte, an eine
Krankheit als Wurzel aller Krankheiten und dementsprechend an ein
Heilmittel zu glauben“. Im Zweifel hilft viel Opium. Oder Magnetismus.
Die quellensatte Erörterung dieses Irrationalismus macht wahrnehmbar, dass
andere zeitgenössische Irrlehren aus gegenteiligem Antrieb entstehen.
Strikt antiromantisch ist der Ansatz, aus einem Katalog der Symptome einen
Katalog der Heilmittel ableiten zu können, wie ihn die Homöopathie
verfolgt. Samuel Hahnemanns Idee einer „rationellen Heilkunde“ weist ihren
Erfinder ja gerade nicht als Romantiker [4][sondern eher als einen
missratenen Sohn der Aufklärung aus].
Logisch, Huchs penetranter Nationalismus verstellt ihrem Blick die
europäische Dimension der Bewegung. Sie macht die Romantik erst zu dem
kerndeutschen Phänomen, für das pseudokritische Geister sie heute oft
halten. Dort, wo sie’s erklären will, verfällt sie in schreiend blöde
Stereotype: „Die ersten Romantiker waren Norddeutsche gewesen, durch hellen
Verstand, Wissensdurst und geistige Energie ausgezeichnet, wie sie dem
Norddeutschen im Allgemeinen eigen sind.“
Dumm Tüüch. Aber immerhin entwickelt sie aus diesem tendenziell
rassistischen Denkmuster in diesem Buch keinen flagranten Antisemitismus,
wie später in ihrer Bakunin-Monografie. Es sind halt die kleinen Dinge, die
wir feiern müssen.
15 Oct 2022
## LINKS
[1] https://www.tu-braunschweig.de/germanistik/poetikdozentur
[2] https://www.aufbau-verlage.de/die-andere-bibliothek/die-romantik-ausbreitun…
[3] https://www.textlog.de/2323
[4] /Kontroverse-ueber-Homoeopathie/!5574123
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
Braunschweig
Romantik
Rechtsradikalismus
Alstom
Radverkehr
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