# taz.de -- Kontroverse über Homöopathie: Das weiße Nichts | |
> Für die Wirksamkeit von Globuli gibt es keine ernsthaften Belege. Warum | |
> kommt das bei den Anhänger*innen der Homöopathie nicht an? | |
Bild: Globuli: Jeder kennt jemanden, der auf die Zuckerkügelchen schwört | |
HEIDELBERG/KÖTHEN/MAINZ/VELEN taz | An der Universität Mainz soll eine | |
Ärztin einen Vortrag halten. Philosophicum, Hörsaal P2, Mittwoch, 14. | |
November 2018, 19 Uhr. Das Thema: „Die [1][Alternativmedizin] – wirklich | |
eine Alternative?“ Normalerweise nimmt außerhalb der Hochschule kaum jemand | |
Notiz von solchen Veranstaltungen. Bei dieser bricht Empörung aus, als habe | |
die Uni den Antichristen für einen Ehrendoktor in Theologie nominiert. | |
Als Ulrike Fröhlich erfährt, wer da in Mainz sprechen soll, setzt sie einen | |
Protestbrief an den Rektor der Universität auf. Fröhlich ist Vorsitzende | |
der Hahnemann-Gesellschaft, einem Zusammenschluss homöopathischer | |
Mediziner. Sie schickt ihren Brief an Zeitungen. Sie will, dass der Vortrag | |
abgesagt wird. „Ich werde es nicht widerspruchslos hinnehmen“, schreibt | |
Fröhlich, „dass unsere wissenschaftliche Kultur derart beschädigt wird“. | |
Die Referentin des Abends, Natalie Grams, ist [2][eine Reizfigur für die | |
Anhänger der Homöopathie]. Sie gehörte selbst lange zu ihnen. Heute sieht | |
sie die Homöopathie kritisch. Fröhlich nennt Grams in ihrem Brief eine | |
„selbsternannte ‚Sachkundige‘“, durch deren „einseitigen Lobby-Vortra… | |
Studierende „unsachgemäß informiert“ würden. Einen Tag vor dem Vortrag | |
kündigt Ulrike Fröhlich an, die Uni Mainz zu besuchen. Sie habe etwa 35 | |
Kollegen gebeten, ebenfalls zu kommen. Auch Patienten habe sie | |
angeschrieben, sagt sie einem Fachportal für Apotheker. | |
Ein paar Stunden vor der Veranstaltung ist auf Twitter von einem | |
Skandalvortrag die Rede. Ein Blogger, der mit Ulrike Fröhlichs | |
Hahnemann-Gesellschaft gut vernetzt ist, ruft die Veranstalter dazu auf, | |
dafür zu sorgen, dass es zu „keinen gewalttätigen Ausschreitungen“ gegen | |
die Homöopathen komme. Ein paar Tage zuvor hatte er [3][Kritik an der | |
Homöopathie] mit der Judenverfolgung im „Dritten Reich“ verglichen. Kurz | |
vor dem Vortrag patrouillieren zwei Polizisten auf dem Flur des | |
Philosophicums, einem Funktionsbau mit überfüllten schwarzen Brettern. | |
## Homöopathie ist im Gesundheitssystem verankert | |
Warum ist die Stimmung nur so aufgeheizt, wenn es um die Homöopathie geht? | |
Die Homöopathie ist eines der beliebtesten alternativen Therapieverfahren | |
in Deutschland. Gut die Hälfte der Deutschen soll laut der Umfrage eines | |
Herstellers bereits homöopathische Mittel genutzt haben. In jedem | |
Bekanntenkreis findet sich jemand, der auf die kleinen Zuckerkügelchen | |
schwört, die Globuli. | |
Und auf den ersten Blick wirkt das Ganze ja seriös. Die Homöopathie ist im | |
Gesundheitssystem verankert. Homöopathische Mittel sind apothekenpflichtig, | |
sie haben Beipackzettel über Risiken und Nebenwirkungen. Manche | |
Krankenkassen zahlen für die Therapie. Und Ärztinnen wie Ulrike Fröhlich | |
führen offiziell die Zusatzqualifikation als Homöopathin wie andere die als | |
Proktologe. Wenn die Homöopathie ein Irrtum ist, warum sollte die | |
Proktologie dann wahr sein? | |
Schaut man genauer hin, bekommt man schnell den Eindruck, in einer | |
Trollfabrik gelandet zu sein. Es wird gekämpft und gehasst, oft persönlich, | |
gern bizarr. Als das ZDF im Januar eine Dokumentation über die Heilmethode | |
ausstrahlte, rief Ulrike Fröhlichs Hahnemann-Gesellschaft dazu auf, | |
massenhaft bei dem Sender anzurufen – inklusive Argumentationsvorlage: „Der | |
Hinweis auf die Wissenschaftlichkeit ist in diesem Zusammenhang nicht | |
wichtig“, steht in der Rundmail. „Diese Aktion dient nicht der inhaltlichen | |
Auseinandersetzung.“ | |
## „Glauben Sie etwa, dass wir alle dumm sind?“ | |
In letzter Zeit ist viel vom Postfaktischen die Rede, davon, dass gefühlte | |
Wahrheiten in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wichtiger werden | |
als echte und die Debatten immer unversöhnlicher. Im Kampf um die | |
Homöopathie lässt sich vieles davon beobachten. | |
Es sind noch gut sechs Stunden bis zu ihrem Vortrag im Mainzer Hörsaal P2. | |
Natalie Grams ist noch in Heidelberg, sie schaut auf ihr Handy, auf die | |
Twitter-Aufregung, die Proteste. Sie ist das gewohnt, im Netz wurde schon | |
ihre Doktorarbeit durchleuchtet und spekuliert, dass Grams als verdeckte | |
Lobbyistin der Pharmaindustrie arbeite. „Aber kalt lässt mich das überhaupt | |
nicht“, sagt sie. Nach einem Vortrag in Linz habe sich einmal ein Arzt, ein | |
stattlicher Mann, vor ihr aufgebaut und sie in bedrohlichem Ton gefragt: | |
„Glauben Sie etwa, dass wir alle dumm sind?“ | |
Grams steht in Heidelberg in ihrer ehemaligen Praxis, ein Eckhaus gegenüber | |
einer Grundschule. Früher war hier ein Nähladen, Grams nahm einen Kredit | |
auf, riss den Linoleumboden heraus und verlegte helles Laminat. Inzwischen | |
arbeiten hier zwei Physiotherapeuten, sonst hat sich wenig geändert. | |
An den Wänden hängen die Bilder, die Grams angebracht hat, langformatige | |
Fotos: eine Möwe, eine Rose, eine Schlossmauer – symbolisch für die | |
tierischen, pflanzlichen und mineralischen Ausgangsstoffe, die die | |
Homöopathie klassischerweise verwendet. 500 homöopathische Mittel verwahrte | |
sie in dem großen Medizinschrank im Sprechzimmer. Drei Jahre hat Grams hier | |
als Privatärztin praktiziert. Bis ihr Zweifel kamen. | |
## Zweifel einer Privatärztin | |
Die begannen, als sie ein Buch in den Händen hielt: „Die Homöopathie-Lüge�… | |
Grams reagierte so wie die, die sich heute über ihre Vorträge und Bücher | |
aufregen. Sie schrieb eine empörte Kundenrezension bei Amazon. Wer erlebt | |
habe, wie die Homöopathie Leben verändere, schrieb sie, der könne unmöglich | |
so ein Buch verfassen. | |
Unter dem Post entspann sich eine Diskussion, und Grams ließ sich darauf | |
ein. Woher willst du wissen, dass es die Homöopathie war?, fragte jemand. | |
Grams verstand die Frage nicht. Sie ging ihre Patientenakten durch, die | |
vielen Erfolgsgeschichten, die sie darin zu finden meinte. Da war die | |
Alkoholikerin, die fast jede Woche bei ihr in der Praxis saß, die | |
irgendwann trocken wurde und wieder einen Job fand. Ist das nicht | |
eindeutig? | |
Kann es nicht auch die Zuwendung gewesen sein?, hielt jemand dagegen. Das | |
Gespräch? Oder der Verlauf der Zeit? Warum soll es ein Medikament gewesen | |
sein, das so stark verdünnt ist, dass kein Wirkstoff mehr in ihm | |
nachzuweisen ist? „Die haben immer weiter nachgefragt“, sagt Grams. „Und | |
ich bekam sie einfach nicht überzeugt.“ Sie nahm sich vor, selbst ein Buch | |
zu schreiben, das alle Zweifel ausräumen sollte. Die Homöopathie-Wahrheit. | |
## Menschen glauben ihren Erinnerungen | |
Eines Tages saß eine Brustkrebspatientin auf der anderen Seite von Grams | |
Schreibtisch, vor dem Bild mit der Schlossmauer. Die Frau hatte panische | |
Angst vor einer Operation, sie bettelte um ein homöopathisches Mittel gegen | |
den Tumor. Wie könnte ich das verantworten, in so einem gravierenden Fall, | |
wenn ich nicht 100-prozentig sicher sein kann, dass die Homöopathie hilft?, | |
dachte Grams. So erzählt sie es heute. Sie könne die Globuli ja ergänzend | |
zur Operation nehmen, antwortete sie ihrer Patientin. Den Krebs wollte die | |
Frau später von einem Wunderheiler behandeln lassen. | |
Grams las, eher zufällig, Bücher aus der Psychologie, die sich mit | |
Denkfehlern beschäftigen. Zum Beispiel von Daniel Kahneman, einem | |
Nobelpreisträger, der in unzähligen Experimenten zeigte, dass wir im Alltag | |
laufend falsch wahrnehmen und urteilen. Kahneman schreibt, dass wir eher | |
das für wahr halten, woran wir uns schnell erinnern, was in unserem Kopf | |
ohne große Mühe verfügbar ist. | |
Unsere eigenen Erfahrungen, schreibt Kahneman, fühlen sich wahrer an als | |
die anderer, von denen uns berichtet wird. Über Homöopathie schreibt | |
Kahneman nicht ausdrücklich, aber man kann seine Überlegungen problemlos | |
übertragen. Wenn wir am eigenen Leib zu erleben meinen, wie eine Medizin | |
wirkt, überzeugt uns das eher als eine Studie. | |
Ein Arzt, der mit Homöopathie behandelt, erinnert sich leichter an die | |
Patienten, die immer wieder in die Praxis kommen, die Zufriedenen. Die | |
Unzufriedenen, die nach ein, zwei Besuchen wegbleiben, vergisst er. Der | |
Erfolg fühlt sich wahrer an als der Misserfolg. | |
## Fachjournale und Forschungsgesellschaften | |
Grams erzählt, dass einmal ein japanisches Paar zu ihr kam, das verzweifelt | |
nach einem Mittel gegen die Neurodermitis ihres Säuglings suchte. Sie | |
hatten schon mehrere Homöopathen konsultiert. Auf einem karierten | |
DIN-A4-Blatt hatte der Vater in winziger Schrift in jeder Kästchenreihe | |
notiert, mit welchen Globuli sie es versucht hatten. Alle vergebens. | |
Wenn die Homöopathie so wirksam ist, fragte sich Grams, wieso konnte keiner | |
ihrer Kollegen helfen? Und wieso sollte sie es können? Beruhte ihr Glaube | |
an die Homöopathie vielleicht auf den Denkfehlern, die Kahneman beschrieb? | |
„Jeden Patienten, der wegbleibt, macht man sich zum Vorwurf“, sagt sie. | |
„Aber ich wäre nie darauf gekommen, dass ihnen die Homöopathie vielleicht | |
einfach gar nicht geholfen hat.“ | |
Die Homöopathie hat sich im Laufe der Zeit zu einem Gedankengebäude | |
aufgetürmt, mit Fachjournalen, Forschungsgesellschaften und Tagungen, die | |
über die Lehre wachen. Die Zufälle und Fehlschlüsse, mit denen sie begann, | |
sind nur noch schwer zu erkennen. | |
## „Hahnemanns Reiseapotheke“ | |
Köthen in Sachsen-Anhalt. In der Wallstraße schließt Liane Just ein grün | |
gestrichenes Haus auf, das heute ein kleines Museum ist. Sie will die | |
Ärztinnen und Ärzte, die nach einem Homöopathie-Kongress noch Lust auf eine | |
Stadtführung hatten, an den Ursprung ihrer Überzeugungen führen: dem Haus, | |
in dem Samuel Hahnemann von 1821 bis 1835 lebte. Drei Kongress-tage liegen | |
hinter den Ärzten, mit Referaten über die Tropfenverdunstungsmethode und | |
die Polaritätsanalyse. | |
Just steigt über die rote Kordel, hinter der ein Schreibtisch, ein schwerer | |
Sessel und andere Originalmöbel stehen. Sie nimmt einen Kasten aus | |
poliertem Holz aus dem Bücherregal und öffnet ihn, darin stecken mehr als | |
900 Fläschchen mit Globuli, mit Korkdeckeln verschlossen. „Hahnemanns | |
Reiseapotheke“, erklärt sie. „Noch im Original befüllt.“ Die Ärzte sch… | |
Fotos. | |
Als Samuel Hahnemann vor 200 Jahren die Homöopathie erfand, war die Medizin | |
in einem erbärmlichen Zustand. Die Ärzte griffen, der Tradition folgend, zu | |
drastischen Kuren, verabreichten Brechmittel und zapften ihren Patientinnen | |
Blut in großen Mengen ab, damit die Krankheiten abflössen. Wer überlebte, | |
den hatte man wohl geheilt. | |
Hahnemann durchschaute bemerkenswert früh, dass sich seine Kollegen über | |
ihre Erfolge täuschten. Zeitweise gab er seine Praxis auf, auch aus | |
Skrupel. „Auf diese Art ein Mörder oder Verschlimmerer des Lebens meiner | |
Menschenbrüder zu werden“, schrieb er 1808 in einem Brief, „war mir der | |
fürchterlichste Gedanke“. | |
## Die Geburtstunde der Homöopathie | |
Über Wasser hielt Hahnemann sich mit dem Übersetzen von medizinischer | |
Literatur. Dabei stieß er um 1790 auf eine eigentümliche Erklärung für die | |
Wirksamkeit der Chinarinde gegen Malaria. Die bittere Pflanze stärke den | |
Magen, und der Zustand des Magens strahle auf den ganzen Körper aus. Reine | |
Spekulation, wie so vieles damals. Hahnemann überzeugte es nicht. Also | |
schluckte er selbst Chinarinde, täglich vier Quäntchen. Plötzlich fühlte er | |
sich matt, das Herz raste, der Puls pochte – als habe er sich mit Malaria | |
infiziert. Der Versuch gilt manchen als Geburtsstunde der Homöopathie und | |
anderen als ihr erster Irrtum. | |
Chinarinde hilft zwar gegen die Krankheit, aber sie löst bei Gesunden keine | |
Malaria-Symptome aus; vielleicht war Hahnemann bloß allergisch. Doch für | |
ihn muss es eine Erleuchtung gewesen sein, so perfekt schien alles | |
zusammenzupassen. Er formulierte den Grundgedanken seiner Lehre: Man müsse | |
ein Leiden mit einem Mittel behandeln, das die Symptome normalerweise | |
auslöst. | |
Das war ebenfalls spekulativ, und so richtig schien die Behandlung bei | |
Hahnemanns Patienten nicht anzuschlagen. Also begann er mit der Dosis zu | |
experimentieren und verringerte schließlich die Gaben – zunächst aus purer | |
Vorsicht. Mit der Zeit meinte er aber festzustellen, dass die Mittel sogar | |
umso besser wirkten, je stärker er sie verdünnte. Mitunter war der | |
Wirkstoff in Hahnemanns Arzneien gar nicht mehr nachweisbar. Hahnemann | |
theoretisierte später, dass er durch geistartige Kräfte wohl auf das Wasser | |
übergegangen sein müsse. | |
## Heilsam nur im Verhältnis | |
Gut möglich, dass die Homöopathie eine Schrulle der Medizingeschichte | |
geblieben wäre – wäre nicht 1831 in Europa die Cholera ausgebrochen. | |
Hahnemann verfasste vier Aufsätze über die Behandlung der Krankheit. Und | |
seine Methode hatte Erfolg – scheinbar. Ein Arzt in Raab in Oberösterreich | |
behandelte nach Hahnemanns Vorgaben 154 Patienten, 148 überlebten. Im | |
örtlichen Krankenhaus starben von 284 Cholerakranken 122. Ein Homöopath aus | |
Brünn in Mähren behandelte 631 Patienten, nur 31 verstarben. Bei einem | |
Lemberger Homöopathen überstanden 26 von 27 Patienten die Krankheit. | |
Hahnemann, beflügelt von den Berichten, schrieb am 7. November 1831 in | |
Köthen einen offenen Brief an den preußischen König. „Erkenne aus den | |
fürchterlichen Sterbelisten, dass deine Ärzte vielleicht mancherlei können, | |
nur heilen nicht.“ Der vermeintliche Erfolg der Homöopathie dürfte einen | |
simplen Grund haben: Sie hatte die geschwächten Patienten schlicht vor den | |
brutalen Behandlungsmethoden der anderen Ärzte bewahrt. | |
Heilsam erschien die Alternativmedizin nur, weil die Standardbehandlung mit | |
Aderlass, Abführmitteln und Brechkur so gesundheitsschädlich war. So | |
scharfsichtig Hahnemann die Irrtümer seiner Kollegen durchschaute, so blind | |
blieb er bei seinen eigenen. | |
Dabei misstrauten schon Hahnemanns Zeitgenossen der neuen Lehre. Im Februar | |
1835 folgten 117 Interessierte in Nürnberg einem Zeitungsaufruf und | |
versammelten sich zu einem Experiment im Gasthaus „Zum rothen Hahn“. Zwei | |
Apothekergehilfen bereiteten Gläser vor. In die eine Hälfte gossen sie | |
destilliertes Schneewasser, in die andere homöopathisch verdünnte | |
Kochsalzlösung. Die Gläser wurden den Versuchsteilnehmern gereicht, niemand | |
wusste, ob er das homöopathische Mittel oder Wasser trinkt. | |
## Studien widerlegen Wirksamkeit | |
Gewöhnliches Kochsalz, hatte Hahnemann geschrieben, verwandle sich in der | |
Homöopathie zu einer „heroischen und gewaltigen Arznei, die man nach dieser | |
Zubereitung Kranken nur mit großer Behutsamkeit reichen darf“. Wäre das so, | |
hätte in der Gruppe der Nürnberger Versuchsteilnehmer, die das verdünnte | |
Salz schluckten, Spektakuläres passieren müssen, zumindest aber irgendwas, | |
was sich in der anderen Gruppe nicht beobachten ließ. | |
Etwa einen Monat später kamen die Versuchsteilnehmer wieder ins Gasthaus. | |
Ein Mann, der, wie sich herausstellte, das homöopathische Mittel geschluckt | |
hatte, berichtet von einem „Kollern im Unterleibe“ eine Stunde nach der | |
Einnahme. Ein anderer, der allerdings das Schneewasser getrunken hatte, | |
meinte, eine „ungewöhnliche Regung des Geschlechtstriebes“ wahrgenommen zu | |
haben. 42 der 55 Teilnehmer merkten dagegen: nichts. Egal, was sie | |
eingenommen hatten. | |
Seither wurden nach diesem Muster viele Studien gemacht: Patientinnen | |
werden per Zufall in zwei Gruppen geteilt, die eine bekommt ein | |
Scheinpräparat, die andere die Arznei. Weder die Versuchsteilnehmer noch | |
diejenigen, die das Mittel aushändigen, wissen, wer was schluckt. So | |
versucht die Wissenschaft alles zu vermeiden, was das Ergebnis in eine | |
bestimmte Richtung lenken könnte. | |
## Globuli wirken nicht besser als ein Placebo | |
Medikamente müssen normalerweise diesen Test bestehen, um zugelassen zu | |
werden. Die Homöopathie muss das nicht, das Arzneimittelrecht in | |
Deutschland befreit sie von der Pflicht, ihre Wirksamkeit nachzuweisen. Und | |
überprüft man sie in solchen aufwendigen Versuchen, kommt in der Regel wie | |
schon 1835 in Nürnberg heraus: Es gibt keinen nennenswerten Unterschied | |
zwischen beiden Gruppen, Globuli wirken nicht besser als ein Placebo. | |
Nicole Sagorski sagt, die Homöopathie habe sie fast umgebracht. Die | |
42-Jährige sitzt in einem Café in Velen, einer Kleinstadt im Münsterland. | |
Es begann mit Regelblutungen, die nicht mehr aufhören wollten. Sagorski, | |
damals Mitte 30 und Rettungsassistentin im Schichtdienst, behalf sich mit | |
Binden, zwei übereinander. | |
Die Gynäkologin reagierte eigenartig schroff, als Sagorski nach drei | |
Monaten schließlich im Behandlungsstuhl saß. Sie solle sich sofort wieder | |
anziehen, es sei doch ekelig, blutend zur Untersuchung zu kommen. Die | |
Ärztin sprach, so berichtet es Sagorski, von einer stressbedingten | |
Zyklusstörung und schrieb ein Mittel auf, Agnus Castus D2. „Ohne mich | |
überhaupt untersucht zu haben.“ | |
## Der Krebs hatte schon gestreut | |
Von der Apothekerin hörte Sagorski damals zum ersten Mal das Wort Globuli. | |
Eine sanfte Medizin, erklärte die, ohne Nebenwirkungen. Wichtig sei nur, | |
die Kügelchen immer in ungerader Anzahl zu nehmen. Zwei Monate lang | |
schluckte Sagorski fünf Globuli, jeweils morgens, mittags und abends vor | |
dem Essen. Ohne Besserung. Als sie wieder bei ihrer Gynäkologin war, | |
erklärte die, dass das Präparat ja nur unterstützend wirken könne. Ihren | |
stressigen Lebenswandel müsse sie schon selbst ändern. | |
Sagorski versuchte, den Stress zu bekämpfen, den sie gar nicht empfand. Sie | |
ging länger mit dem Hund spazieren, eine Stunde statt 20 Minuten, die | |
Waldroute statt die durch den Park. Sie sagte ihrem Badminton-Trainer, sie | |
würde in nächster Zeit erst einmal nicht mehr kommen, um weniger | |
Termindruck zu haben. „Ich habe mich wirklich an jeden Strohhalm | |
geklammert.“ Die Blutung blieb. | |
Schließlich machte Sagorski einen Termin bei einem anderen Frauenarzt aus. | |
Der stellte endlich die richtige Diagnose: Gebärmutterhalskrebs. Im | |
Frühstadium ist die Krankheit gut behandelbar, aber nun, nach fast einem | |
Jahr, hatte der Krebs gestreut, der Arzt riet zu einer | |
Gebärmutterentfernung. Sagorski sagt, sie hätte gerne Kinder bekommen. „Das | |
werfe ich der Ärztin heute noch vor.“ Die Homöopathie hat keine schlimme | |
Behandlung verhindert wie bei den Patienten im 19. Jahrhundert. Aber | |
Sagorksi hätte wegen ihr die bessere des 21. Jahrhunderts beinah verpasst. | |
## Mehr als nur eine Kritik | |
Eine Studie der Universität Yale aus dem Jahr 2017 zeigt, wie | |
lebensbedrohlich es werden kann, sich in schweren Fällen auf eine Therapie | |
zu verlassen, die auf Illusionen beruht. Ein Team um den Radiologen Skyler | |
Johnson verglich 281 Krebspatienten, die sich nach Methoden der | |
Alternativmedizin wie der Homöopathie behandeln ließen, mit 560 Kranken, | |
die eine konventionelle Therapie bekamen. | |
Ein Viertel der Krebspatienten mit konventioneller Therapie war nach sieben | |
Jahren verstorben. Von den Patienten, die auf die Alternativmedizin | |
setzten, war die Hälfte tot. Und die, die überlebten? Man kann es sich gut | |
vorstellen: Wahrscheinlich schwärmen sie nun umso begeisterter von der | |
Alternativmedizin, mit der sie die Krankheit gegen jeden Rat der | |
Schulmedizin überstanden zu haben glauben. | |
Es sind noch viereinhalb Stunden bis zum Auftritt in Mainz. Irgendwie, sagt | |
Natalie Grams, kann sie die Wut verstehen, die ihr Vortrag auslöst. Wer die | |
Homöopathie kritisiert, kritisiert nicht nur ein Verfahren. Er greift die | |
Identität derer an, die an sie glauben. Sie kennt das Gefühl. „Ich dachte | |
ja auch, ich mache meine Praxis bis ich 90 bin“, sagt sie. „Das war mein | |
Leben.“ Und plötzlich war da der Verdacht, ihren Patienten oft gar nicht | |
geholfen, ihnen vielleicht sogar geschadet zu haben. | |
## „Als hätte mir jemand die Drogen genommen“ | |
Natalie Grams rettete sich vor den Zweifeln in die Babypause. Eine Weile | |
überlegte sie, mit einer Art ehrlichen Homöopathie zurückzukehren, mit dem | |
Eingeständnis, dass die Kügelchen nicht wirken, allenfalls als Placebo. | |
Dass es nur das Gespräch ist, das den Patienten gut tut. Aber | |
Gesprächstherapien gibt es schon. Warum sollte sie so etwas unter dem Titel | |
Homöopathie anbieten? Grams sagt, sie sei wie durch einen kalten Entzug | |
gegangen. „Als hätte mir plötzlich jemand die Drogen weggenommen. Ich | |
musste neu denken lernen.“ | |
Die Kommentare, die sie bei Amazon verfasst hatte, löschte sie. Das eigene | |
Buch, mit dem sie alle Kritik ausräumen wollte, wurde ein kritisches. Kurz | |
bevor der Verlag es in den Druck gab, änderte Grams den Klappentext. „Die | |
Ärztin Dr. med. Natalie Grams, Jahrgang 1978, führt eine erfolgreiche | |
homöopathische Privatpraxis in Heidelberg“ – sollte da stehen. Sie rief den | |
Lektor an, gab die letzte Änderung durch: Es sollte „führte“ heißen. | |
Am 7. Mai 2015 schickte Grams eine Rundmail an ihre Patienten: „Ich habe | |
meine Praxis aufgegeben, da mich die Arbeit an meinem Buch davon überzeugt | |
hat, dass ich die Homöopathie leider, leider nicht länger guten Gewissens | |
als Arzneitherapie anwenden kann.“ Einige fragten, ob Grams einen anderen | |
Homöopathen empfehlen könne. Manche wechselten von da an die Straßenseite, | |
wenn sie Grams in der Stadt sahen. | |
## Verdünnung macht nicht stärker | |
Hörsaal P2, elf Sitzreihen, 128 ausklappbare Bänke, belegt bis auf den | |
letzten Platz. Ulrike Fröhlich, die Homöopathin, die den Protestbrief | |
geschrieben hat, sitzt in der viertletzten Reihe am Rand. Sie winkt anderen | |
zu, demonstrativ, ruft ein Hallo durch den Raum. Eine Frau in der Reihe vor | |
ihr dreht sich zu Fröhlich um. „So voll“, sagt sie, „woran das wohl lieg… | |
Konspiratives Lächeln. | |
Unten vor der Tafel erklärt Natalie Grams, dass sie mit ihrem Vortrag | |
hoffe, in einen Dialog zu kommen. Sie sagt, dass man sich nicht auf den | |
persönlichen Eindruck als Arzt oder Patientin verlassen dürfe. Dass man | |
sich, so klug und gebildet man auch sei, ständig täusche. Dass man die | |
Wissenschaft brauche, um nicht in die Falle zu tappen. „Wir sind in vieler | |
Weise beeinflussbar.“ | |
Oben in der viertletzten Bank macht Ulrike Fröhlich Fotos von den Folien, | |
die Grams mit dem Beamer an die Wand wirft. „Gott, ist das falsch“, sagt | |
sie. Grams sagt, dass Verdünnung Medikamente nicht stärker machen kann. | |
„Was nicht da ist, kann nicht wirken.“ Ein Zwischenruf: „Schon mal | |
verlassen worden?“ Schweigen. Dann Grölen. Einen Augenblick lang sieht es | |
aus, als ringe Grams vor dem vollen Hörsaal um Fassung. Die ersten | |
klatschen. „Wenn ich jetzt ja sage“, antwortet Grams, „ist die Homöopath… | |
dann wirksam?“ | |
## Schlagabtausch im Hörsaal | |
Es meldet sich eine Patientin. „Ich meine, meine chronischen Leiden | |
losgeworden zu sein und bin damit glücklich“, sagt sie. „Und ich habe | |
meiner Versichertengemeinschaft damit zigtausend Euro erspart, weil ich | |
seit 15 Jahren diesen Weg konsequent gehe.“ Grams sagt, das möge in diesem | |
Fall stimmen, es gebe aber eine große Studie der Techniker Krankenkasse, | |
die besagt, dass Patienten, die sich homöopathisch behandeln lassen, höhere | |
Kosten verursachen. „Der Kostenfaktor macht bei mir wirklich einen | |
erheblichen Unterschied“, sagt die Frau. | |
„Es gibt Daten“, sagt Grams, jetzt etwas energischer. „Da können Sie nic… | |
einfach Ihre Geschichte daneben stellen.“ „Aber meine ist genauso“, ruft | |
einer in der Reihe dahinter. „Dann sind es zwei Geschichten, die gegen eine | |
Studie mit 45.000 Patienten stehen.“ Eine Rheumapatientin nimmt das | |
Mikrofon, schwärmt von der Alternativmedizin. | |
„Es hat mir geholfen, egal ob es jetzt Einbildung war oder nicht.“ Grams | |
versucht es freundlich: „Sie wissen, dass eigentlich mein ganzer Vortrag | |
davon gehandelt hat, dass die einzelne Erfahrung für Sie persönlich | |
unendlich wertvoll ist, aber nicht geeignet ist zur Beurteilung der | |
Wirksamkeit eines Präparates.“ „So wie die Einzelerfahrung einer Ärztin, | |
die die Homöopathie meidet“, ruft ein Mann. | |
## Vorwurf der fehlenden Erfahrungen | |
Ulrike Fröhlich bekommt das Mikrofon. „Frau Dr. Grams“, sagt sie, sie | |
betont den Titel, „ich habe mich erkundigt, wo Sie Ihre | |
Homöopathie-Ausbildung gemacht haben. Von 2009 bis 2011 waren Sie als | |
Praktikantin und dann als Assistentin unter Aufsicht eines erfahrenen | |
homöopathischen Kollegen in der Nähe von Heidelberg aktiv. In dieser Zeit | |
hatten Sie Ihr kleines Kind zu betreuen und konnten zwei bis maximal vier | |
Stunden in der Praxis zubringen.“ Manche werden unruhig. | |
„Und was hat das mit der Homöopathie zu tun?“, fragt Grams. „Sie haben | |
keine klinische Erfahrung“, sagt Fröhlich. „Natalie Grams“, sagt sie laut | |
und deutlich, wie ein vernichtendes Urteil, „ist eine homöopathische | |
Anfängerin“. | |
Später, vor dem Hörsaal, umringt von ihren Mitstreitern, sagt Fröhlich, | |
wenn man sie fragt, man könne in der Homöopathie vielleicht nach fünf | |
Jahren mitreden, nach 15 sei man wirklich erfahren. Wenn ein Homöopath dann | |
Zweifel äußere, würde sie sich die selbstverständlich offen anhören. Dass | |
die Zweifel spät kamen, aber früh genug, sagt Natalie Grams, das sei ihr | |
Glück gewesen. Hätte sie noch 15 Jahre weitergemacht, sie hätte einen | |
Vortrag wie diesen heute Abend wohl nie gehalten. | |
Bernd Kramer, 35, ist freier Journalist. Diese Recherche war für ihn eine | |
der ungewöhnlicheren. Eine Homöopathie-Website warnte vor ihm und ließ über | |
ihn als „Anti-Homöopathie-Pinocchio des Monats“ abstimmen. Gewählt wurde | |
statt ihm aber Natalie Grams. | |
5 Mar 2019 | |
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Wundermittel oder Scharlatanerie? Nach Beschwerden von Student*Innen | |
streicht die Medizinische Universität Wien das Wahlfach „Homöopathie“. | |
Krankenkassen und Homöopathie: Das Geschäft mit dem „Öko-Trend“ | |
Viele gesetzliche Krankenkassen zahlen für Homöopathie-Leistungen – | |
aufgrund der großen Kundennachfrage. Das stößt auch auf Kritik. | |
Pro & Contra Homöopathie: Pseudo-Medizin oder Profi-Politik? | |
Am Donnerstag beginnt in Bremen der diesjährige Homöopathie-Kongress – mit | |
Gesundheitssenatorin Quante-Brandt (SPD) als Schirmherrin. Ein Skandal? |