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# taz.de -- Sowjetische Kriegsgräber: Pietät als Kampfmittel
> Die Grabungen am Kriegsgefangenenfriedhof in Bremen sind abgeschlossen:
> Eine Bürger-Ini glaubt, dass nur dort ein würdiges Gedenken möglich ist.
Bild: Bremens Landesarchäologin Uta Halle an der Ausgrabungsstätte in Bremen-…
Bremen taz | In der Ukraine lebende Angehörige von zweien der in Bremen
Gröpelingen bestatteten Toten hat das Team um Uta Halle ausfindig gemacht.
„Das hatte für uns etwas sehr Berührendes“, so Bremens Landesarchäologin
über die nunmehr abgeschlossenen [1][Grabungen an der Bremer Reitbrake], im
Volksmund Russenfriedhof. Dort waren die Toten des benachbarten Lagers
Grambker Heerstraße ab Herbst 1941 oft eher verscharrt als zur letzten Ruhe
gebettet worden.
Die Grabungen ausgelöst hatte [2][ein sublokaler Konflikt, der bundesweit
Wellen schlug]: Eine Bürger-Ini hat den Friedhof sozusagen wiederbelebt.
Anwohner*innen des bereits stark industriell belasteten Stadtteils
stemmen sich gegen die Pläne, das Gelände an die deutsche Tochter des
französischen Alstom-Konzerns zu verkaufen.
Und sekundiert vom Bremer Friedensforum haben sie die verdrängten Bremer
Toten der Sowjetarmee in Stellung dagegen gebracht: Geplant ist, auf der
mit Hafensand überspülten Fläche gleich am Bahndamm, neben dem
Abfallbehandlungsbetrieb Nehlsen und Kalles Palettenhandel eine
Bahnwerkstatt zu errichten.
Dass dort auch einmal ein Gräberfeld lag, ist nie ganz vergessen, aber bis
in die 1990er-Jahre nie groß Thema gewesen. Als Lokalhistoriker Harry
Winkel Forschungen zur örtlichen Lagerlandschaft anstellte wies er nach,
dass die Zahl der an der Reitbrake Bestatteten viel höher sein müsse, als
bis dahin angenommen. Man hat dann ein drei Meter hohes orthodoxes Kreuz
aufgestellt. Von offizieller Seite war’s das dann.
## Hinweise gab es längst
Hinweisen auf Überreste der Toten ging keiner ernsthaft nach. Dabei gab es
die: „Die Wüste“ nannten Kinder der benachbarten Wohnquartiere das in den
1950ern unbebaute Sandland. Manche sollen Knochen vom Spielen dort nach
Hause gebracht haben. Ein Hinweis darauf, dass dort noch Skelette lagen,
die längst hätten umgebettet sein sollen, auf den Friedhof
Bremen-Osterholz.
Denn die Gräberstätte an der Reitbrake ist aufgelöst worden. Im Jahr 1947
war angeblich zunächst geplant, die bestehenden Kriegsgefangenenfriedhöfe
auf dem Stadtgebiet zu Gedenkstätten auszubauen, aber das sei nur eine
Show-Veranstaltung gewesen, sagt Winkel: „Die Überspülung des Geländes an
der Reitbrake mit Hafenschlick war da schon im Gange, wie hätte man also
einen Ehrenfriedhof an der Reitbrake einrichten sollen?“
Beschlossen hat der Senat laut Konrad Elmshäuser, dem Leiter des Bremer
Staatsarchivs denn auch „die bisherigen Friedhöfe aufzulösen und in
Osterholz zu einer zentralen Gedenkstätte zusammenzufassen“. Eine
Genehmigung der Alliierten habe es dafür gegeben. Die Umbettung verlief
dann alles andere als planvoll: Grünflächenamtsmitarbeiter ohne
Totengräbererfahrung wurden mit Extra-Milchrationen gelockt und für den
Sondereinsatz rekrutiert.
Der seelischen Belastung, die noch in Verwesung befindlichen Leichname zu
bergen, zu transportieren und neu zu bestatten, waren sie wohl nicht
gewachsen. Die Aktion wurde unvollendet abgebrochen. Ein Massengrab direkt
am Bahndamm, das erst gegen Ende der Untersuchungen bemerkt wurde, hatten
sie völlig übersehen. Dort hat man [3][45 der insgesamt 62 vollständigen
Skelette entdeckt], die von den Archäolog*innen geborgen wurden.
## Massensterben im Lager
„Die sind alle zwischen November 1941 und Januar 1942 gestorben“, so Uta
Halle. „Es sind mit die ersten, die man hier begraben hat.“ Sie waren in
kläglichem Zustand aus den Stammlagern Nienburg und Wiezendorf in Bremen
angekommen: Auszehrung, Hunger und unverheilte Verletzungen führten zu
einem Massensterben, gleich nach Inbetriebnahme des Lagers.
Das sind Fragen, die 1948 niemand stellt. Aber immerhin: Ausdrücklich
bedauert worden ist laut Staatsarchivleiter Elmshäuser damals, „dass eine
eigene sowjetische Stellungnahme nicht eingeholt werden konnte“. Nach der
Genfer Konvention wäre es ohne diese Einwilligung verboten gewesen, die
Leichen anzurühren, aber die wurde erst 1949 beschlossen, ein Jahr später.
Eine nachträgliche Zustimmung aber habe es gegeben, so Elmshäuser: „In den
1950er-Jahren hat die sowjetische Seite das Osterholzer Gräberfeld mehrfach
besucht und gleichsam abgenommen“, so der Historiker. „Das ist auch später
und während der gesamten aktuellen Debatte nicht infrage gestellt worden“,
so Elmshäuser. „Von keinem der betroffenen Staaten.“
Die ukrainische Generalkonsulin Irina Tybinka begleitet den Prozess
[4][wohlwollend]: Sie hat die Grabungen besucht und ukrainische Studierende
ins Team von Halle vermittelt. Eine Anfrage an die belarussische Botschaft
blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Auch von russischer Seite ist kein Protest gegen die Alstom-Pläne laut
geworden, [5][während Generalkonsul Andreij Sharashkin] bei anderen
Bauvorhaben – auf der Fläche eines Zwangsarbeiterlagers in Bremen war 2019
ein Puff errichtet worden – sehr früh und sehr harsch protestiert hatte. Am
Festakt zur Beendigung der Grabungen am vergangenen Wochenende hat
Vizekonsul Sergej Loginov [6][teilgenommen].
## 153 Opfer bereits identifiziert
Bis zu drei Jahre wird es laut Uta Halle dauern, bis die Funde ausgewertet
sind, „das geht heute dank Computertechnik schneller“. Zur Unkenntlichkeit
verrostet sind die Metallgegenstände, die jahrzehntelang hier im Boden
lagerten. Die individuelle Zuordnung der Knochen wird mühsam, die
Erforschung der genauen Todesursachen steht an.
Und, menschlich mutmaßlich am wichtigsten: Die gefundenen Erkennungsmarken
der Toten müssen in vielen Fällen erst von Sandverkrustungen befreit und so
lesbar gemacht werden, um vielleicht Kontakt herzustellen, um den
betroffenen Familien Gewissheit zu geben – und vielleicht einen Ort des
Gedenkens an den unbekannten Vorfahren.
Immerhin 153 Opfer hat man schon identifizieren können. Nimmt man das Ziel
ernst, wäre ein Abgleich [7][mit den akribischen Recherchen des
Lokalhistorikers Peter Michael Meiners] sinnvoll. Der Plan, die in zwei
Fällen ausfindig gemachten Nichten und Neffen aus Kijiw hierher zu
bringen, ist indes vorerst an Russlands Krieg gegen die Ukraine
gescheitert.
„Wir wissen momentan gar nicht, wo die sich aufhalten oder wie es ihnen
geht“, sagt Halle. Es seien betagte Leute. Ob sie jemals nach Bremen
kommen, ist daher ungewiss, und das ist womöglich die entscheidendere
Frage, als die, ob sie dann im Gewerbegebiet an der Reitbrake Kränze
niederlegen können – oder eben auf dem parkartigen Friedhof Osterholz, am
anderen Ende jener Stadt.(Infolge einer Verwechslung wurden die
lokalhistorischen Forschungen zu dem Lager Grambker Heerstraße nicht Harry
Winkel zugeordnet. Dieser Fehler ist korrigiert.)
18 Oct 2022
## LINKS
[1] /80-Jahre-Ueberfall-auf-die-Sowjetunion/!5781178
[2] /Streit-um-Graeber-aus-der-Nazizeit/!5827262
[3] /Kriegsgraeber-gegen-Bahnwerkstatt/!5880214
[4] https://www.senatspressestelle.bremen.de/pressemitteilungen/ukrainische-stu…
[5] https://hamburg.mid.ru/de_DE/web/hamburg_de
[6] https://www.senatspressestelle.bremen.de/pressemitteilungen/gedenk-konzert-…
[7] https://upgr.bv-opfer-ns-militaerjustiz.de/
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
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