# taz.de -- Die Wahrheit: Wer die Wahl hat | |
> Die steigende Wahlbeteiligung belastet die Demokratie in Deutschland. | |
> Bildungsträger und Parteien wollen jetzt zügig Abhilfe schaffen. | |
Bild: Fern der Wahlurne lässt es sich gut bei einem gepflegten Pils einkehren. | |
Im Hof der sachsen-anhaltischen Landeszentrale für politische Bildung | |
lodert ein Feuer. In den Flammen verglimmen Broschüren über die | |
Legitimation von Landesparlamenten und andere Schriften für den geneigten | |
Staatsbürger. Doch Rainer First ficht das nicht an. Der Leiter der | |
Landeszentrale interessiert sich bloß für seine Kartoffeln, die in der Glut | |
schmurgeln. | |
„Wenn wir eines aus den Landtagswahlen gelernt haben, dann ist es doch | |
dies: Die Wahlbeteiligung muss endlich wieder sinken“, sagt er und pult | |
Alufolie von den Feldfrüchten der Magdeburger Börde. „Wenn wie am | |
vergangenen Sonntag über 60 Prozent der Bürger zur Wahl gehen, machen | |
einfach zu viele Leute mit, die sich mit Politik überhaupt nicht auskennen. | |
Und die versauen dann alles.“ | |
Im Blick hat der Fachmann für demografischen Sinneswandel vor allem die | |
ehemaligen Nichtwähler, deren überraschendes Auftauchen am Superwahltag für | |
lästige Wartezeiten an den Urnen und in der Folge für noch weitaus | |
lästigere, da zweistellige Ergebnisse der AfD geführt hatte. „Diese | |
Menschen müssen wir schleunigst wieder zu Nichtwählern erziehen. Einen | |
größeren Dienst können wir der Demokratie derzeit gar nicht erweisen“, | |
schmatzt First und legt Kartoffeln nach. | |
Schon vor der Wahl hatte seine Landeszentrale mit dem Slogan „Ich kenne ein | |
echt nettes Lokal direkt bei dir um die Ecke!“ für alternative | |
Freizeitbeschäftigung am Wahltag zu werben versucht. Doch die Kampagne | |
hatte nicht recht verfangen. | |
## Demokratie stärken, Politikverdrossenheit fördern | |
Deswegen hat der engagierte Politikpädagoge nun sämtliche Aktionen | |
gestoppt, die Bürger zu einer Beteiligung am politischen Leben bewegen | |
sollen, und fackelt die Restbestände seiner Infobroschüren ab. Außerdem hat | |
First am heimischen Küchentisch die Eckpunkte einer neuen Kampagne mit dem | |
Arbeitstitel „Demokratie stärken – Politikverdrossenheit fördern“ zu Pa… | |
gebracht. Mit humorvollen Slogans wie „Zu Hause ist es doch am schönsten“ | |
oder „Am Sonntag mach ich blau“ und „Die machen ja doch, was sie wollen“ | |
will er vor allem Protestwähler ganz spielerisch vom Urnengang abhalten. | |
„Unser politisches System ist zu fragil, um es Leuten zu überlassen, die | |
einen Nazi nicht einmal dann erkennen, wenn sie ihn selbst gewählt haben. | |
Oder ganz bewusst Nazis wählen, weil sie ein Passant mit vager | |
Flüchtlingsähnlichkeit auf der Straße gefühlt islamisch angeschaut hat – | |
oder überhaupt anwesend war.“ Auf Wahlplakaten will First deswegen künftig | |
Warnhinweise anbringen lassen, die vor möglichen Nebenwirkungen der | |
Stimmabgabe warnen (“Wählen kann den Menschen in ihrer Umgebung erheblichen | |
Schaden zufügen“). | |
„Auch beim Stimmvieh gilt: Qualität vor Quantität“, erläutert er. „Es … | |
übrigens die viel gescholtenen etablierten Parteien, die mich auf die Idee | |
der konzertierten Wählervergrämung gebracht haben. Gerade die | |
Sozialdemokratie verhält sich in dieser Hinsicht vorbildlich.“ | |
Auch im bürgerlichen Lager teilt man Firsts Katerstimmung. „Ein Weißwein | |
kommt mit elf Prozent aus, das gleiche gilt für die Beteiligung bei | |
Landtagswahlen“, meint die önologisch versierte Julia Klöckner, die für | |
ihre rheinland-pfälzische CDU ein bemerkenswert schlankes Ergebnis | |
eingefahren hat. „Eine Volkspartei braucht nicht zwingend mehr | |
Prozentpunkte als ein gutes Pils“, schätzt die gewesene anhaltische | |
SPD-Spitzenkandidatin Katrin Budde, der es sogar gelang, das ohnehin magere | |
Wähleraufkommen der Partei in ihrem Bundesland zu halbieren. | |
## Letzte ehrenvolle Aufgabe der SPD | |
Im Willy-Brandt-Haus denkt man sogar noch weiter. Dass die SPD in Zukunft | |
neben einer Handvoll Unverbesserlicher überhaupt noch Wähler findet, | |
scheint derart unwahrscheinlich, dass der Aufwand eines Wahlkampfes nicht | |
mehr lohnt. Stattdessen sollen die Genossen das gefährliche Volk in der | |
sensiblen Phase mit kleinen Geschenken („Bier“) ablenken und am Wahltag mit | |
vernünftigen Argumenten (“Deckel zahlen“) in Gefilde („Kneipe“) umleit… | |
in denen es weniger Schaden anrichten kann. In einer ergreifenden Rede soll | |
der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel seine Parteifreunde auf „diese letzte | |
ehrenvolle Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie“ eingeschworen haben. | |
Auch die übrigen Parteien wollen künftig mehr Distanz zum Wähler wagen. Die | |
Grünen erwägen für Baden-Württemberg die Einführung einer erbsgrünen | |
Erbmonarchie, Teile der Linken setzen auf altbewährte Abschreckung (“Für | |
Stalinismus und Schießbefehl“) und im Berliner Kanzleramt plant man, | |
Wahltermine künftig nicht mehr öffentlich oder zumindest fehlerhaft | |
(“Operation Zahlendreher“) bekannt zu geben. | |
Die Schwesterpartei CSU setzt dagegen weiterhin auf Mimikry: Beliebte | |
fremdenfeindliche Positionen der Petry-Bande will der begnadete Illusionist | |
Horst Seehofer auch künftig so naturgetreu nachahmen, dass der Unterschied | |
zu echtem Rassismus für den politischen Laien gar nicht erkennbar ist. | |
Bislang geht die Taktik des Christsozialen auf und findet immer mehr | |
Befürworter in allen politischen Lagern, vor allem aber bei der AfD. | |
Als das Feuer in der sachsen-anhaltischen Landeszentrale für politische | |
Bildung zur blauen Stunde heruntergebrannt ist und alle Kartoffeln verzehrt | |
sind, wird der berufsoptimistische Öffentlichkeitsarbeiter Rainer First | |
doch ein klein wenig melancholisch. „Demokratie könnte so schön sein“, sa… | |
er und seufzt. „Wenn bloß die ganzen Arschlöcher nicht wären.“ | |
16 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
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