# taz.de -- Politikberater vor EU-Türkei-Gipfel: „900 Menschen pro Tag“ | |
> Gerald Knaus gilt als Erfinder des „Merkel-Plans“: Deutschland könnte | |
> großzügig Syrer ins Land holen und so die Türkei entlasten, schlägt er | |
> vor. | |
Bild: Vorangehen: Das sollte auch die Bundesregierung in der Flüchtlingskrise,… | |
taz: Herr Knaus, was erwarten Sie vom EU-Gipfel mit der Türkei am Montag? | |
Gerald Knaus: Die entscheidenden Gespräche finden derzeit nicht zwischen | |
der EU und der Türkei, sondern zwischen Deutschland und der Türkei statt. | |
Das Treffen zwischen Merkel und Davutoğlu vor dem Gipfel ist ist darum | |
womöglich wichtiger. | |
Um was geht es da? | |
Zum einen um ein ambitioniertes Programm humanitärer Umsiedlung – dass man | |
Syrer direkt aus der Türkei nach Europa bringt, damit sie nicht gezwungen | |
sind, sich in die Hände von Schleppern zu begeben und in der Ägäis ihr | |
Leben zu riskieren. Darüber wird seit Wochen verhandelt, und da müsste es | |
endlich einen Durchbruch geben. Angela Merkel müsste sagen: Mit einer | |
Koalition anderer europäischer Staaten übernehmen wir aus der Türkei ein | |
bestimmtes Kontingent von Flüchtlingen, und zwar ab sofort. | |
Und zum anderen? | |
Das andere ist, dass sich die Türkei bereit erklärt, Flüchtlinge, die ab | |
einem bestimmten Zeitpunkt parallel zur Umsiedlung Griechenland erreichen, | |
zurückzunehmen. Da wäre es klug von der EU zu sagen: Wenn die Türkei die | |
Bedingungen für Flüchtlinge im Land weiter verbessert und auch bereit ist, | |
abgelehnte Asylbewerber aus Griechenland zurückzunehmen, dann könnte es | |
schon im Sommer die ersehnte Visa-Freiheit geben. | |
Viele verstehen nicht, welchen Plan Angela Merkel verfolgt, obwohl sie sich | |
zweimal bei Anne Will erklärt hat. Hat die Kanzlerin ihren Plan zu schlecht | |
kommuniziert? | |
Das Problem ist eher, dass sich seit Oktober zu wenig getan hat. Erst in | |
diesen Tagen hat die Türkei zugesagt, 800 Leute aus Griechenland | |
zurückzunehmen. Das ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Aber | |
Angela Merkel braucht jetzt Erfolge und muss dafür ein Risiko eingehen. | |
Denn immer mehr Regierungen in Europa bezweifeln, dass das je klappen wird. | |
Ohne allerdings einen besseren Plan zu haben. | |
Bislang war nur vage von Kontingenten die Rede. | |
Es geht darum, die Türkei als das Land der Welt, das derzeit die meisten | |
syrischen Flüchtlinge beherbergt, substantiell zu entlasten. Am besten, man | |
beginnt mit 900 Menschen pro Tag, das wären ein paar Hunderttausend im | |
Jahr. Deutschland sollte den Löwenanteil übernehmen, allein schon, weil die | |
Leute sonst ohnehin hierher kommen. Je mehr Staaten sich in der EU daran | |
beteiligen, desto besser. Das kann aber nur freiwilliger Basis geschehen. | |
Von einer Verteilung der Flüchtlinge nach Quoten halten Sie nichts? | |
Nein, denn dieses Programm ist gescheitert – bislang sind ja gerade mal 300 | |
Leute aus Griechenland auf diese Weise umgesiedelt worden. Aber auch wenn | |
man in den letzten Monaten wie geplant 120.000 Leute umgesiedelt hätte, | |
wäre Griechenland immer noch auf 80.000 Leuten sitzen geblieben – und man | |
hätte für noch mehr Leute einen Anreiz geschaffen, nach Griechenland zu | |
kommen. Das hilft niemandem. | |
Nach welchen Kriterien sollten Flüchtlinge aus Griechenland wieder in die | |
Türkei zurückgeschickt werden? | |
Man kann die Leute nicht ohne Verfahren zurückschicken. Aber im Rahmen der | |
mit dem EU-Recht kompatiblen griechischen Gesetze könnte die Türkei diese | |
Menschen innerhalb weniger Tage zurücknehmen. | |
Was ist der Vorteil der Kontingent-Lösung? | |
Niemand müsste in der Ägäis sein Leben riskieren. Und man wüsste: Das sind | |
Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind, die wurden überprüft, da sind | |
keine schwarzen Schafe darunter. Wenn man ganze Familien nimmt, würde sich | |
auch die Diskussion um den Familiennachzug erledigen. Es würden nicht so | |
viele Frauen und Kinder auf dem Balkan umherirren, die ihren Männern | |
folgen. Wenn Deutschland auf diesem Weg in einem Jahr 200.000 Syrer | |
übernehmen würde, dann würde der Prozess endlich in geordnete Bahnen | |
kommen. Das wiederum ist entscheidend dafür, dass die Akzeptanz für die | |
Aufnahme von Flüchtlingen weiter erhalten bleibt. | |
Innenminister Thomas de Maizière meint, zuallererst müsse die Zahl der | |
Flüchtlinge drastisch zurückgehen. | |
Dann wäre ja jetzt der richtige Moment, denn es kommen ja kaum noch | |
Flüchtlinge nach Deutschland, weil die momentan in Griechenland | |
feststecken. | |
Hat sich das Problem für Deutschland damit nicht erledigt? | |
Nein, denn damit stürzt man Griechenland in eine dramatische Krise. Einem | |
Land die gesamte Last aufzubürden ist keine Strategie – diese Politik ist | |
brandgefährlich. | |
Länder wie Ungarn und Slowenien setzen darauf, die Grenze zwischen | |
Mazedonien und Griechenland zu schließen. Auch die CSU glaubt, dadurch | |
könne der Zustrom abebben. Was denken Sie? | |
Die Idee, man könne in den schwachen Staaten des Balkans die Leute durch | |
Zäune aufhalten, ist total illusorisch: Das ist im Grunde ein | |
Subventionsprogramm für Balkan-Schmuggler. Die werden einfach neue Wege | |
suchen. Victor Orbán hat die Illusion produziert, sein Zaun habe die Leute | |
davon abgehalten, in sein Land zu kommen. Aber der Grund, warum sie lieber | |
nach Deutschland oder Schweden gehen, ist, dass sie dort besser behandelt | |
werden. | |
Auch bei uns wird das Asylrecht verschärft, um Leute abzuschrecken. Hat das | |
keinen Effekt? | |
Nein, weil die Bedingungen in Deutschland auf absehbare Zeit immer besser | |
sein werden als anderswo in der EU – und in der EU immer noch besser als in | |
Syrien, Jordanien oder dem Libanon. Die Türkei hat sich seit 2011 bemüht, | |
die Lebensbedingungen in den Lagern zu verbessern, und den Syrern eine | |
Arbeitserlaubnis in Aussicht gestellt. Aber es ist eine enorme | |
Herausforderung, für Hunderttausende Kinder, die Arabisch sprechen, das | |
Recht auf Schulbildung durchzusetzen. | |
Erpresst die Türkei Europa mit den Flüchtlingen? | |
Die türkische Küstenwache hat im letzten Jahr Zehntausende von der | |
Überfahrt abgehalten. Aber das ist eine Sisyphusarbeit. Denn solange diese | |
Inseln, die man von der Türkei aus mit bloßem Auge sieht, das Tor zu einem | |
besseren Leben in Europa bilden, kann die Türkei den Flüchtlingsstrom zwar | |
beschränken, aber nicht stoppen. Und man darf nicht vergessen, dass die | |
Türkei über tausend Kilometer Grenze zu Syrien und dem Irak hat, die sie | |
ebenfalls sichern muss. Zu erwarten, dass sie jetzt ihr Hauptaugenmerk | |
darauf richtet, der EU zu ersparen, mit Flüchtlingen konfrontiert zu | |
werden, ist ohne Gegenleistung weder realistisch noch fair. | |
Das Misstrauen gegenüber der Türkei rührt auch daher, dass deren Rolle im | |
Syrien-Konflikt als zwiespältig empfunden wird. Ist das Misstrauen | |
unbegründet? | |
Darum braucht man eine Übereinkunft, die nicht auf Vertrauen beruht, | |
sondern auf konkreten Verpflichtungen. Und die Türkei ist ebenfalls auf | |
Deutschland und die EU angewiesen. Wenn der Waffenstillstand in Syrien | |
nicht hält, besteht die Gefahr, dass noch einmal ein paar Hunderttausend | |
Menschen von dort in die Türkei fliehen. Auch deswegen ist es wichtig, dass | |
die Türkei in Europa Verbündete hat. | |
Ist es nicht absurd, dass die EU der Türkei jetzt so weit entgegenkommt, | |
obwohl sich Erdoğan immer autokratischer gebärdet? | |
Ich glaube, dass es von Vorteil ist, wenn sich Deutschland und die EU in | |
der Flüchtlingsfrage fair und hilfreich verhalten. Auch die Visa-Freiheit | |
ist im Interesse einer europäischen Türkei, denn davon würden Studenten, | |
Geschäftsleute und Verwandte von Türken in Deutschland profitieren. | |
Umgekehrt gilt: Wenn wir uns darauf versteifen, dass wir uns mit der Türkei | |
ohnehin nicht einigen können, sie mit den Flüchtlingen allein lassen, mit | |
Griechenland sogar ein EU-Mitgliedsland fallen lassen und stattdessen einen | |
Zaun auf dem Balkan bauen, dann führt das ganz sicher nicht dazu, dass | |
Ratschläge oder Warnungen aus der EU von irgendwem in der Türkei ernst | |
genommen werden. | |
Wer könnte denn zu dieser „Koalition der Willigen“ gehören, der Flüchtli… | |
aus der Türkei übernimmt? | |
Deutschland könnte mit den Benelux-Staaten und Schweden den Kern bilden – | |
aber die Gruppe ließe sich leicht vergrößern durch Portugiesen, Bulgaren, | |
Polen oder Franzosen und auch Österreich. Und wenn die Ungarn dann | |
weiterhin darauf beharren, es wäre das Ende ihrer Kultur, wenn sie 1.500 | |
Syrer aus der Türkei übernähmen, dann wäre zumindest klar, wer solidarisch | |
ist in dieser Krise und wer nicht. | |
Was ist mit Frankreich und Großbritannien? | |
David Cameron hat vor einigen Monaten gesagt, er wolle lieber Menschen | |
direkt aus dem Krisengebiet übernehmen. Letztlich geht es um eine | |
grundlegende Wende in der Asylpolitik. Derzeit können ja nur diejenigen | |
einen Asylantrag stellen, die sich zunächst in die Hände von Schleppern | |
begeben und ihr Leben riskieren. Das ist absurd. Da sollte die deutsche | |
Regierung sagen: Gut, wir gehen voran und übernehmen Syrer direkt aus der | |
Türkei, und dann gibt es im Sommer einen großen Gipfel, bei dem andere | |
Länder wie Australien, Japan, Argentinien oder die USA aufgefordert werden, | |
für die Syrer im Libanon und Jordanien etwas ähnliches zu machen. | |
Ist das realistisch? | |
Ja, aber die Alternative leider auch. Denn wenn Deutschland scheitert, | |
werden sich auch in der EU die Stimmen durchsetzen, die wie Victor Orbán | |
fordern, die Rhetorik der Menschenrechte und das gesamte Asylrecht über | |
Bord zu werfen. Wenn sich diese Position durchsetzt, dann stünde die Genfer | |
Flüchtlingskonvention nur noch auf dem Papier. Wie das in Australien heute | |
bereits der Fall ist. | |
6 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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