| # taz.de -- Alltagsrassismus in Tröglitz: Teilen macht reich | |
| > Im Kampf gegen Rassismus gab Markus Nierth sein Amt als Bürgermeister in | |
| > Tröglitz auf. Ein Jahr später denkt er darüber nach, den Ort zu | |
| > verlassen. | |
| Bild: Markus Nierth in Tröglitz. | |
| Tröglitz taz | „Ein bisschen den Kopf durchlüften“, sagt Markus Nierth und | |
| deutet auf den Feldweg. Nierth lässt Knuddel von der Leine. Der Hund mit | |
| dem Zottelfell springt los. „Den gab es voriges Jahr noch nicht“, klärt | |
| Nierth auf. Knuddel ist so eine Art Wachhund, kein richtiger, das ist | |
| schnell klar, dafür ist er zu verspielt. Aber einer, der ein bisschen | |
| Rabatz macht, wenn jemand ums Haus schleicht, das schon. Nierth schaut dem | |
| Hund zu, wie er mehrere große Sätze macht. | |
| Wie sich die Welt seit letztem Jahr verändert hat. Der Mischlingsrüde | |
| gehört zu den liebenswerten Neuerungen. Nierth geht weiter. Von hier oben | |
| schweift der Blick wie von selbst in die Ferne. Felder voller Wasser wie | |
| Schwämme, Baumwipfel, die Abraumbagger am Horizont, die ihre Ausleger wie | |
| Fäuste in den Himmel recken. Die Augen entspannen, in die Brust strömt | |
| kalte Luft. | |
| „Von hier oben kann man Leipzig sehen“, sagt Nierth und winkt heran. | |
| Irgendwo im Dunst liegt die Messestadt. „Wir haben überlegt, nach Leipzig | |
| zu ziehen“, eröffnet Nierth. „Aber in einer Stadt leben?“, er blickt um | |
| sich: die Felder, die Stille. „Das kann ich nicht.“ | |
| Dass Nierth einmal an Tröglitz zweifeln würde, dem Ort im Süden | |
| Sachsen-Anhalts, den er 1999 selbst gewählt hat – wer hätte das gedacht? | |
| Knuddel kommt näher, Nierth legt ihn an die Leine und geht zum „Lindenhof“ | |
| zurück, den ehemaligen Gasthof mit dem Fachwerk und den blassgrün | |
| gestrichenen Wänden, den Nierth wiederaufgebaut hat. Es könnte sein | |
| Lebenswerk sein. Doch Markus Nierth trägt sich mit Abschied. | |
| ## Sechzig Flüchtlinge | |
| Bis vor einem Monat hat die Polizei das Haus der Familie in der Nacht | |
| bewacht, erzählt Nierth. Jetzt hat Knuddel übernommen. „Ein Stück weit hab | |
| ich die Heimat verloren“, wiederholt Nierth, legt Mantel und Filzhut ab und | |
| geht ins Haus. Ein Jahr ist es her, dass Nierth als Bürgermeister von | |
| Tröglitz zurückgetreten ist. Das Industriedorf mit seinen 2.800 Einwohnern, | |
| dem historischen Ortskern, den Mietshäusern und der Eigenheimsiedlung | |
| sollte sechzig Flüchtlinge aufnehmen. Nierth erklärte den besorgten | |
| Tröglitzern, dass er keinen Einfluss auf die Verteilung der Flüchtlinge | |
| habe, und warb für einen freundlichen Empfang. | |
| Hätte er etwas anders machen können? Markus Nierth lehnt sich im Sofa | |
| zurück. Ihm gegenüber sitzt seine Frau Susanna. Sonne fällt jetzt durch die | |
| Fenster ins Wohnzimmer mit dem gusseisernen Ofen, dem Holztisch und dem | |
| mächtigen Balken an der Decke. Man fühlt sich wie in einer Burg, aber einer | |
| behaglichen. Hier sollte vor einem Jahr der „Lichterspaziergang“ enden, den | |
| erregte Einwohner und NPD-Sympathisanten organisiert hatten, um als Volkes | |
| Stimme dem Bürgermeister die Meinung zu geigen. Es sind freundliche, offene | |
| Fenster. Im Geviert hängen Herzen aus Stoff. Man kann gut nach draußen | |
| blicken – und von draußen hinein. | |
| Eine Demonstration, angemeldet von einem NPD-Funktionär, im Dämmerlicht, | |
| mit Laternen, und drinnen sitzen Nierths mit den Kindern? Markus Nierth | |
| bittet den Landrat um Unterstützung. Der Aufzug solle nicht verboten | |
| werden, aber bitte eine andere Route nehmen. Vergebens. Nierth tritt | |
| zurück. | |
| „Die schlimmsten Momente gab es bei den Fäkalbriefen“, beginnt Susanna | |
| Nierth. Sie hat die blonden Haare hochgeknotet, sitzt aufrecht im | |
| Korbsessel. War ihr Mann Markus zuvor schon Angriffen ausgesetzt, wird die | |
| Familie nach dem Rücktritt Ziel geradezu archaischer Verwünschungen. Sie | |
| nehmen noch zu, als Anfang April die vorgesehene Flüchtlingsunterkunft | |
| brennt. Nierth wird beschimpft, beleidigt, bedroht – auf Facebook, am | |
| Telefon, per Post. | |
| ## Brief voller Kot | |
| Im Juni brachte der Postbote einen dicken Brief von einem Tanzzirkel, | |
| adressiert an die Tanzakademie von Susanna Nierth. Als sie ihn öffnet, | |
| sieht sie, dass er voller Kot ist. Susanna Nierth erzählt und wiederholt | |
| dabei die Handbewegungen, wie sie den Brief aufreißt – und hält sprachlos | |
| inne. Lange ist sie diesen Gestank nicht losgeworden, sagt sie und hält die | |
| Hände vor ihr Gesicht. Jetzt ist der Ekel wieder da. | |
| „Das Landeskriminalamt hat super gearbeitet“, sagt Susanna Nierth. Die | |
| Beamten haben den Brief untersucht, auch DNA-Proben genommen. Den Absender | |
| aber konnten sie nicht ermitteln, nur so viel: Der Brief wurde in der | |
| Region aufgegeben. „Beim zweiten Brief war ich noch aufgeregt, als ich die | |
| Polizei gerufen habe“, fährt Susanna Nierth fort. Den dritten habe sie ganz | |
| fest und ruhig entgegengenommen. Nein, sie ist nicht stolz darauf, winkt | |
| sie ab, eher beunruhigt, dass sie so reagiert hat, so abgebrüht. „Es hat | |
| sich was verändert.“ | |
| Frau Nierth, da ist jemand krank, habe ihr ein Beamter vom LKA gesagt, | |
| erzählt sie weiter. Er wollte sie etwas beruhigen. Doch was hilft es, wenn | |
| diese „Krankheit“ um sich greift? Von diesem Format war der dritte Brief | |
| der letzte. Schluss ist keineswegs. „Wir haben gerade wieder eine nette | |
| Karte bekommen“, sagt Markus Nierth. „Du und deine Alte … das | |
| Flüchtlingspack … verzieht euch aus Tröglitz … ihr macht das doch nur weg… | |
| der Kohle“, liest er laut. Tadellose Rechtschreibung, saubere Handschrift | |
| und Sinn fürs Schöne. Die Vorderseite ziert eine barocke Freitreppe mit | |
| Blumen in einem sommerlichen Park und trotzdem voller Gift. | |
| ## Baumelnde Herzchen | |
| „Es verrät viel über den Menschen, wenn Geld so bedeutsam ist“, überlegt | |
| Nierth. „Teilen macht reich“, sagt er. Dann bricht es aus ihm heraus: „Die | |
| ahnen gar nicht, was es kostet. Diese Hetze, diese Hartherzigkeit, diese | |
| Verstümmelung. Sie berauben sich selbst.“ Markus Nierth schüttelt den Kopf. | |
| „Ich habe den Auftrag: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Nierth | |
| schaut auf. In den Fenstern baumeln die Herzchen. | |
| Wenn man die steinernen Herzen dieser Menschen doch gegen weiche, warme | |
| austauschen könnte! Wenn man ganz Tröglitz mit seiner Thälmannstraße und | |
| dem Friedensplatz einfach heilen könnte! Markus Nierth, der evangelische | |
| Theologe, der in Tübingen studiert hat, hat es versucht. Wie ein Apostel | |
| hat er den „Lindenhof“ hier im gottfernen Osten zur Kirche auserkoren. | |
| Nierth, der Pfarrerssohn, kam freiwillig in die Region zurück, von wo er | |
| einst in den Westen aufgebrochen war. | |
| Irgendwann hat er seine Mission beendet und ist Trauerredner geworden und | |
| dann Bürgermeister. Das Amt hat Markus Nierth selbst abgegeben. Der | |
| Broterwerb aber sollte ihm genommen werden. Ihr Mann habe keine Aufträge | |
| mehr erhalten, berichtet Susanna Nierth. Bei ihr selbst gab es Abmeldungen | |
| in der Tanzakademie. Um ein Drittel sei der Umsatz der beiden Freiberufler | |
| im vorigen Jahr zurückgegangen. Jetzt gehe es voran. | |
| ## In der Mitte der Gesellschaft | |
| „Dass das alles einen Preis haben würde, war uns klar“, bekräftigt Susanna | |
| Nierth. Die Verluste in Euro und Cent lassen sich halbwegs verkraften. | |
| Etwas anderes wiegt schwerer. „Dass alles, was vorher war, nicht mehr | |
| zählt.“ Wenn Verleumdung um sich greift. Susanna Nierth wirkt so, als hätte | |
| sich die Zusammensetzung der Luft verändert. Dass Hetze, Beleidigungen, | |
| Gewalt offen zur Schau getragen werden, dass das keine Nebensache mehr ist, | |
| dass das angekommen ist in der Mitte der Gesellschaft. Und dass es zunimmt. | |
| Susanna Nierth ist Choreografin, doch es könnte ihr schwindlig werden. | |
| „Die Spaziergänge von Tröglitz – wenn man das mit Heidenau und Clausnitz | |
| vergleicht, waren die geradezu sanft.“ Wirklich beruhigend ist der | |
| Rückblick von Susanna Nierth jedoch nicht. Und wer sagt denn, dass der | |
| „Volkszorn“ nicht bald wieder marschiert? „Auf Knopfdruck sind wir alle | |
| wieder da“, hatte einer der Organisatoren im vorigen Jahr gedroht. Was, | |
| wenn zu den 22 Flüchtlingen noch weitere hinzukommen? Was, wenn es mehr als | |
| die nun vereinbarten vierzig werden? Und was wäre, wenn einer der | |
| Flüchtlinge straffällig wird? | |
| Es klingelt. Markus Nierth eilt zum Telefon. Der Boden ist mit Fliesen | |
| bedeckt. Wer seit letztem März schon darüber gelaufen ist: Minister, | |
| Unterstützer, auch Gegner. Manche haben geredet wie Automaten, andere waren | |
| stumm, wieder andere haben geweint. Das Wohnzimmer war vieles: | |
| Konferenzraum, Betstube, Pressestelle. Nur einfach das Wohnzimmer einer | |
| Familie, das ist es nicht mehr. Kann man hier noch ohne Arg sitzen, essen, | |
| musizieren und den Blick durch die Fenster schweifen lassen? | |
| „Ist das Schnee!?“ Es klingt wie ein Aufschrei. Susanna Nierth ist | |
| verwirrt. Flockenwirbel vor dem Fenster. Schien nicht eben schon die | |
| Frühlingssonne? | |
| ## „Wir sind nicht verdammt“ | |
| Der Städte- und Gemeindebund will eine Gesetzesinitiative anschieben, um | |
| ehrenamtliche Bürgermeister besser gegen Angriffe von rechts zu schützen, | |
| erzählt Markus Nierth. Ein Fernsehsender bittet um ein Statement. | |
| Das unbeständige Wetter gibt die Gemütslage der Nierths ziemlich gut | |
| wieder. „Es wankt“, gesteht Markus Nierth. „Ich habe mich hier zu Hause | |
| gefühlt.“ Er sieht sich um. „Wir haben viel Lebenskraft reingesteckt.“ | |
| Nierth blickt zu seiner Frau. „Aber wir sind hier nicht verdammt.“ „Es ist | |
| kein Trotz. Ich möchte eine Entscheidung von ganzem Herzen“, antwortet sie. | |
| Wenn sie gehen, dann freiwillig, bekräftigen beide. So wie sie einst | |
| gekommen sind. Hier in diesem Haus wird die Entscheidung fallen. Alle haben | |
| in der Familie ein Mitspracherecht, jeder hat eine Stimme, auch die sieben | |
| Kinder. Silas, der Jüngste, ebenso wie die, die längst außer Haus wohnen. | |
| Wann? Irgendwann in diesem Jahr. | |
| Knuddel schnuppert neugierig über den Hof. Die schlanke Linde in der Mitte | |
| wird bald knospen. In der Wohnung dahinter lebt eine Familie aus | |
| Afghanistan. Die Nierths sind Paten. Insgesamt sechs Flüchtlingsfamilien | |
| leben in Tröglitz, alle in Wohnungen, insgesamt 22 Personen. Tendenz | |
| steigend. Drei Frauen sind schwanger. „Tröglitz steht vor der | |
| Islamisierung“, hatte Markus Nierth noch gespottet. | |
| ## Der verkohlte Dachstuhl | |
| Das Haus, das als Flüchtlingsunterkunft vorgesehen war, liegt hinter | |
| Bauzäunen. Die Kameras des Landeskriminalamtes sind abgebaut. Es wird | |
| weiter ermittelt, heißt es von dort knapp. Der ehemals verkohlte Dachstuhl | |
| ist wie eine Wunde mit weißer Folie verschlossen. Auf dem Friedensplatz | |
| dahinter haben die Demonstranten gegen die Unterkunft protestiert. Heute | |
| findet sich nicht einmal ein Stück Pappe von der NPD. Wahlwerbung ist | |
| unnötig. | |
| Propaganda gab es hier schon genug. Hier haben sie lautstark die | |
| „Asylbetrüger“ und „die Ratte“ Markus Nierth ausgebuht. Jetzt liegt der | |
| Platz verwaist. Die Fenster im Edeka-Markt sind schmutzig, dahinter gähnt | |
| es dunkel. Die Kaufhalle hat im September dichtgemacht. Nun gibt es keine | |
| Einkaufsmöglichkeit mehr im Ortszentrum. Für viele im letzten Jahr sicher | |
| die größte Zäsur. | |
| 3 Mar 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Gerlach | |
| ## TAGS | |
| Tröglitz | |
| Alltagsrassismus | |
| Flüchtlinge | |
| Integration | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Sachsen-Anhalt | |
| Schwerpunkt Landtagswahlen | |
| Flüchtlinge | |
| Zivilgesellschaft | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Flüchtlinge in Sachsen-Anhalt: Dem Widerstand zum Trotz | |
| Im Burgenlandkreis gab es hässliche Anti-Asyl-Proteste. Landrat Götz Ulrich | |
| hält dagegen. Er ist sicher: Sein Kreis braucht Zuwanderer. | |
| Sachsen-Anhalt im politischen Umbruch: Schweigende Heimat | |
| Eddi Stapel ist Ortsbürgermeister im kleinen Bismark – ein Grüner, der die | |
| DDR-Schwulenbewegung initiiert hat. Der Erfolg der AfD macht ihn ratlos. | |
| Betreuung von Flüchtlingen: Die guten Cops von Seeth | |
| Anders als in anderen Bundesländern befindet sich in Schleswig-Holstein | |
| eine Polizeiwache in Flüchtlingsunterkünften. Bringt das was? | |
| Rechte Straftaten in Sachsen-Anhalt: 1.749 | |
| 2015 stieg die Zahl rechter Straftaten in Sachsen-Anhalt um fast 40 | |
| Prozent. Es gab drei Brandanschläge und 71 Attacken auf | |
| Flüchtlingsunterkünfte. | |
| Blau und Braun in Sachsen-Anhalt: Kampf um die Besorgten | |
| Vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt befindet sich die AfD im | |
| Umfragehoch. Sie ist nicht die einzige Partei mit dezidiert völkischem | |
| Ansatz. | |
| Ankommen in Deutschland: Aufbruch im Advent | |
| Coppenbrügge und Eckartsberga – das klingt nach Fachwerk. Die Ankunft von | |
| Flüchtlingen stellt manches auf den Kopf. | |
| Tröglitz nach dem Brandanschlag: Das Dorf und die Schande | |
| Ein Flüchtlingsheim hat gebrannt. Der Ministerpräsident ist angereist. Die | |
| Menschen kommen zusammen – aber in verschiedenen Grüppchen. |