# taz.de -- Flüchtlinge in Sachsen-Anhalt: Dem Widerstand zum Trotz | |
> Im Burgenlandkreis gab es hässliche Anti-Asyl-Proteste. Landrat Götz | |
> Ulrich hält dagegen. Er ist sicher: Sein Kreis braucht Zuwanderer. | |
Bild: Willkommenskultur allerorten: Götz Ulrich (r.) zeigt Noureddine El Mafou… | |
Memleben, Naumburg, Zeitz taz | Am Morgen kommt Götz Ulrich durch den | |
Klostergarten gelaufen, am Rosmarin vorbei direkt hinein in die | |
Kirchenruine. Wenn er sich und anderen etwas Gutes tun will, lädt der | |
Landrat an diesen beschaulichen Ort. Heute hat er Noureddine El Mafouchi im | |
Gefolge. Der Franzose maghrebinischer Abkunft ist als Stadtrat in Les Ulis | |
bei Paris für internationale Beziehungen zuständig. | |
El Mafouchi fädelt mit der Kreisstadt Naumburg eine Partnerschaft ein. Am | |
Vortag hat der dortige Oberbürgermeister den Landrat des Burgenlandkreises | |
kurzerhand als Reiseführer für Memleben eingespannt, das vor tausend Jahren | |
Europas Zentrum war – zumindest wenn Kaiser Otto I. in seiner | |
Lieblingspfalz weilte. | |
Von der Herrlichkeit sind nur noch Reste erhalten, der Gast aber ist vom | |
Genius Loci angetan und lauscht Ulrichs Ausführungen. Otto, 962 in Rom zum | |
ersten römisch-deutschen Kaiser gekrönt, herrschte von Memleben aus über | |
sein Reich, ließ Schenkungen beurkunden, und zu Pfingsten 973 ereilte ihn | |
hier auch der Tod. Der Leichnam wurde in Magdeburg beigesetzt. „Das Herz | |
aber wurde hier bestattet.“ | |
Ulrich ist auf einen Platz getreten, erzählt, dass im nächsten Jahr endlich | |
eine Ausstellung in Memleben an die Ottonen erinnern wird. Sein Blick geht | |
auf den Boden, wo der Grundriss einer gewaltigen Kirche hervortritt. Hier | |
könnte das Herz begraben sein. | |
## Doppeltes Personal für Behörden | |
Doch Götz Ulrich taugt nicht für Pathos. In der gesteppten Jacke, weißes | |
Hemd darunter, und – obwohl noch keine fünfzig – mit silbrigem Haar, wirkt | |
der CDU-Mann ein bisschen ungelenk neben dem eleganten Gast mit der kecken | |
Fedora auf dem Haupt. El Mafouchi hat ein freundliches Gesicht. Les Ulis | |
ist gerade einmal vierzig Jahre alt. Die Retortenstadt kann bei der | |
historischen Fülle nicht mithalten. Aber vielleicht ist El Mafouchi ja ein | |
Bote aus der Zukunft. | |
Immerhin haben acht der 34 Stadträte von Les Ulis das, was man in | |
Deutschland „Migrationshintergrund“ nennt. Unter seinen 54 Kreisräten | |
findet Ulrich im Kreistag keinen einzigen, dafür drei NPD-Kader, unter | |
ihnen Steffen Thiel, der 2015 in Tröglitz die „Spaziergänge“ gegen die | |
Flüchtlingsunterkunft angeführt hatte, die bald darauf in Flammen stand. | |
Das Kreistagsrund komplettiert zudem André Poggenburg, AfD-Fürst von | |
Sachsen-Anhalt und treuester Anhänger des Blut-und-Boden-Predigers Björn | |
Höcke. | |
Rund 3.700 Asylsuchende, Kriegsflüchtlinge und Geduldete leben im Kreis, | |
zumindest ein Teil von ihnen dürfte sesshaft werden. Doch wird es jemals | |
einen Kreisrat mit eritreischen, syrischen oder libyschen Wurzeln geben? An | |
Götz Ulrich soll es nicht scheitern. Der Jurist krempelt gerade seine | |
Kreisverwaltung um. Sein Ziel: schnelle, erfolgreiche Integration. | |
In der „Integrations- und Ausländerbehörde“ ließ er das Personal mehr als | |
verdoppeln. Und in Naumburg entsteht eine „Migrationsagentur“. Flüchtlinge | |
und Migranten sollen in dem Landkreis mit seinen 184.000 Einwohnern nicht | |
nur ein Bett und etwas Geld bekommen, sondern eine Zukunft. | |
Wenn Flüchtlinge einen Deutschkurs oder ein Praktikum suchen, sollen sie | |
nicht mehr über Amtsflure irren. Die Devise: „Alles aus einer Hand“. Es | |
klingt nach Servicecenter, dabei ist es die Fortführung der | |
„Willkommenskultur“ mit bürokratischen Mitteln. | |
Götz Ulrich, der Mann, der als Fünfjähriger, wenn andere Indianer oder | |
Kosmonaut werden wollten, den Wunsch äußerte, Bürgermeister zu werden, der | |
im Posaunenchor Trompete spielt, der kreuzbrave Landrat, erweist sich als | |
Modernisierer und Vorreiter der Integration. Dabei gelten Landräte – als | |
gewählte Beamte der Kreisverwaltung – im besten Falle als unauffällig. | |
## 400 Lehrstellen unbesetzt | |
2015 aber wurden zwei Landräte bundesweit bekannt: Der eine kam aus | |
Landshut, stopfte Asylsuchende in einen Bus, fuhr nach Berlin und schimpfte | |
vorm Kanzleramt über die Flüchtlingspolitik. Den anderen wünschten anonyme | |
Absender unters Fallbeil – Götz Ulrich. Der hatte es nach dem Brandanschlag | |
von Tröglitz gewagt, weiterhin für die Aufnahme von Flüchtlingen zu werben. | |
Monatelang standen Ulrich und seine Familie unter Polizeischutz. | |
Ulrich, der „Standfeste“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung lobte, ist | |
raus aus den Schlagzeilen. Die Drohbriefe lagern im Landeskriminalamt und | |
die Zahl der Asylsuchenden geht seit Monaten zurück. Der 48-Jährige könnte | |
sich wieder dem kommunalen Klein-Klein zuwenden. Am Vortag hat er in einer | |
Sprechstunde mit Engelsgeduld die Beschwerden Unzufriedener angehört. Es | |
ging um entzogene Führerscheine, nasse Sportplätze, Grünschnitt, dann auch | |
wieder um Flüchtlinge. | |
Ein Rentner mokierte sich, dass für Flüchtlinge im ganzen Kreis Wohnungen | |
angemietet werden, und schlug vor, alle Flüchtlinge in eine Platte in der | |
Stadt Zeitz einzuweisen. „So wie früher.“ Billiger sei’s auch. „Ich m�… | |
auch im ländlichen Raum Flüchtlinge unterbringen“, entgegnete Ulrich. Die | |
Akzeptanz dort sei zwar viel schlechter, die Integration aber viel besser. | |
„Die Flüchtlinge sind gezwungen, Deutsch zu reden.“ Der Alte war bald | |
wieder weg. | |
Den Dom von Naumburg hat Noureddine El Mafouchi schon besichtigt. Auf dem | |
Markt wird er von Ulrich verabschiedet. Die Städtepartnerschaft ist auf | |
einem guten Weg. Kurz darauf steuert Ulrichs Chauffeur die Limousine zur | |
Stadt hinaus. Eigentlich ist der ganze Burgenlandkreis ländlicher Raum. | |
Während das Saaletal rings um Naumburg jede Menge Postkartenmotive bietet, | |
dominiert weiter östlich Industrielandschaft. Tagebaue klaffen, ein | |
Kohlekraftwerk glänzt am Horizont und von der Autobahn rollen Legionen von | |
Schweinen direkt in eine schneeweiße Fleischfabrik. | |
## AfD-Mann Poggenburg hat hier seine Hausmacht | |
Gleich hinter der Autobahn wohnt André Poggenburg, der den „deutschen | |
Volkskörper“ rein halten will, wie er im Magdeburger Landtag betonte. Er | |
hat Ulrich im Frühjahr angegriffen, weil der in Zeitz einen Gebetsraum für | |
Muslime bereitstellen will. Der 42-Jährige, der im Dorf Stößen ein | |
Herrenhaus bewohnt, hat im Kreis seine Hausmacht. Bei der letzten | |
Landtagswahl holte die AfD in zwei der drei Wahlkreise hier mit 29,6 | |
beziehungsweise 30,4 Prozent mehr Stimmen als die CDU, im dritten unterlag | |
sie denkbar knapp. | |
Eine Migrationsagentur samt Neubau in Naumburg für 3,5 Millionen Euro ist | |
da nicht ohne Risiko. Es wird eine Querschnittsbehörde entstehen, skizziert | |
Ulrich. „Die Integrations- und Ausländerbehörde zieht ein, Mitarbeiter vom | |
Jugendamt, vom Wirtschaftsamt und vom Bildungsamt kommen hinzu, zudem | |
werden Jobcenter, die Agentur für Arbeit und der Kreissportbund vertreten | |
sein.“ | |
Etwa 70 Mitarbeiter sollen lange Wege, Leerlauf, aber auch Reibung | |
verhindern und gewiss auch bei der Suche nach Gebetsräumen helfen. Ein | |
Novum, nicht nur in Sachsen-Anhalt. Nur aus dem Kreis Osnabrück wisse er | |
von einem ähnlichen Ansatz, sagt Ulrich. | |
Es klingt, als wollte der Fachmann für Verwaltungsrecht eine | |
Integrationsmaschine installieren, die Flüchtlingen eine Chance eröffnet. | |
Systematisch und nicht nur punktuell, wie etwa bei dem 24-Jährigen aus | |
Guinea-Bissau, der als Küchenhilfe arbeitet und den Ulrich kurz aufsucht. | |
„Wir sind gezwungen, beim Thema Integration Erfolge zu erzielen“, hatte er | |
im Februar die Regionalzeitung wissen lassen. | |
Der Druck, der da anklingt, hat nicht nur mit der AfD zu tun. Das Land | |
leert sich. „Wir verlieren 29 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung bis | |
2030“, sagt Ulrich und blickt hinaus. Kann sein Kreis auf Zuwanderung | |
verzichten? | |
Seine Frau, eine Ärztin, gehe mit Flüchtlingen zu Einstellungsgesprächen | |
bei einem Mittelständler, der Fertigteig produziert, erzählt Ulrich. Der | |
Betrieb sucht dringend Arbeitskräfte, und nicht nur dieser. Im August waren | |
im Kreis noch fast 400 Lehrstellen unbesetzt. | |
## Auf dem Anfeindungshöhepunkt halfen Choräle | |
Was aber, wenn gar nicht mehr so viele Flüchtlinge ankommen? Ulrich winkt | |
ab. Es gibt im Burgenlandkreis 5.600 EU-Migranten, allein 3.500 aus Polen, | |
viele von ihnen arbeiten in der Fleischfabrik, viele wollen ihre Familien | |
nachholen. Auch die werden über die Migrationsagentur dankbar sein. | |
In Döschwitz zieht das Weingut Schulze vorbei. Obwohl erst 1999 gegründet, | |
hat es für seine Weine schon reichlich Medaillen eingeheimst. Seine | |
Weinberge erstrecken sich bis nach Tröglitz. Hinein geht’s nach Kretzschau. | |
„Hier gab’s auch wochenlang Demos“, erzählt Ulrich. Einmal wollten sich | |
Asylgegner Zugang zur Kirche verschaffen, in der zur selben Stunde ein | |
Friedensgebet stattfand. Ein Hauch von Bürgerkrieg. | |
Tröglitz, Kretzschau – es war der Höhepunkt der Proteste gegen | |
„Asylschmarotzer“. Ulrich trat im Wochentakt auf Gemeindeversammlungen auf. | |
„Wenn ich da lebend rauskam, war es gut“, erinnert er sich. „Da ging’s … | |
psychisch am schwierigsten.“ Manchmal halfen nur Choräle, rein ins Auto und | |
Kopfhörer auf. „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt“ – ein … | |
Paul Gerhards, in dem die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges nachklingen. | |
Ulrich konnte seine Seelenlage damals gut verbergen. Auf Markus Nierth, den | |
ehemaligen Bürgermeister von Tröglitz, wirkte der Landrat in den | |
Versammlungen souverän, sachlich und ruhig. So schreibt er es in dem Buch | |
„Brandgefährlich“, in dem er seinen Rücktritt verarbeitet. Maßgeblicher | |
Akteur: Götz Ulrich. | |
## „Sein Herz ist stärker geworden“ | |
Als der sonntägliche NPD-„Spaziergang“ vor Nierths Haus enden sollte, um | |
dem Bürgermeister „Volkes Wille“ zu geigen, eskalierte die Lage. Nierth | |
forderte vom Landrat, er solle den Aufmarsch zumindest umleiten, und setzte | |
ein Ultimatum. Fassungslos darüber, dass sich Ulrich dazu nicht in der Lage | |
sah, warf Nierth hin. | |
„Ich bin ihm sicher noch etwas unheimlich“, sagt Nierth am Telefon und | |
lacht. Ein ehrenamtlicher Bürgermeister, der einen Landrat öffentlich unter | |
Druck setzt – das dürfte Ulrichs geordnete Welt erschüttert haben. Ulrich | |
ist ein anderer geworden, sagt Nierth, „mutiger“. Wo sonst gibt es einen | |
Landrat, der sich so klar positioniert? | |
Als die AfD in Zeitz unter der Losung „Keine Migrationsexperimente mit | |
unseren Kindern“ zu einer Kundgebung aufrief, trat Ulrich bei der Gegendemo | |
auf, organisiert von der Linkspartei. Das dürfte nicht allen in der CDU | |
gefallen haben. „Er ist über sich hinausgewachsen“, bekräftigt Nierth, dem | |
man in jedem Satz den Prediger anmerkt, der er einmal war, „Sein Herz ist | |
stärker geworden.“ Götz Ulrich wird es noch brauchen. | |
22 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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