| # taz.de -- Forscherin über Sunniten und Schiiten: Was spaltet die Muslime? | |
| > Beim Kampf von Sunniten und Schiiten geht es um mehr als um Mohammeds | |
| > Nachfolge. Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer über religiöse | |
| > Unterschiede. | |
| Bild: Die Kaaba im Hof der Al-Haram-Moschee in Mekka ist das wichtigste Wallfah… | |
| taz:Frau Krämer, Schiiten und Sunniten, beides muslimische Gruppen, | |
| bekämpfen sich derzeit in vielen Ländern des Nahen Ostens. Für viele im | |
| Westen ist das schwer zu verstehen. Wäre es ein guter Vergleich, wenn man | |
| sagte, das Verhältnis von Katholiken zu Protestanten ähnelt dem von | |
| Sunniten zu Schiiten? Oder wäre das dann schief? | |
| Gudrun Krämer: Na ja, es ist dogmatisch schief. Aber ich finde es trotzdem | |
| hilfreich. In beiden Fällen sehen wir, dass reale theologische Unterschiede | |
| sich verknüpfen mit unterschiedlichen Formen des Ritus, der religiösen | |
| Vorstellungen, Selbstverständnisse und Empfindungen – und dass sie | |
| politisch akut werden können. Dass Protestanten und Katholiken sehr | |
| friedlich miteinander oder nebeneinander leben können, dass sie die | |
| Unterschiede ganz klein machen können, aber auch ganz groß, und sich dabei | |
| gegenseitig bekämpfen, nicht nur in Nordirland. Insofern ist der Vergleich | |
| sinnvoll. Der Vergleich sagt ja nicht, dass Äpfel Birnen sind, Äpfel sind | |
| Äpfel, Birnen sind Birnen, aber sie teilen bestimmte Muster. | |
| Nun bekämpfen sich aber Protestanten und Katholiken nur noch sehr selten. | |
| Hätten Sie das je für möglich gehalten, dass die meisten Toten des | |
| nahöstlichen Terrorismus Muslime sind, ermordet in einem innerislamischen | |
| Kampf zwischen Sunniten und Schiiten? | |
| Daran ist nichts so ungewöhnlich, weil auch in der Vergangenheit immer | |
| wieder einzelne Muslime anderen Muslimen ihr Muslimsein abgesprochen und | |
| gegebenenfalls den Kampf gegen sie gerechtfertigt haben. Es ist also keine | |
| Erfindung unserer Gegenwart. Und diejenigen, die jetzt im Namen des Islam | |
| morden, tun es in dem Selbstbewusstsein, gegen falsche Muslime, Nicht- oder | |
| Scheinmuslime vorzugehen, die nichts anderes verdient haben. | |
| Aber die Heftigkeit des Kampfes ist doch erstaunlich. Oder ist dies, | |
| historisch gesehen, relativ normal? | |
| Nein, es ist nicht normal, es ist normal für Fanatiker und für blindwütige | |
| Kämpfer für ihre eigene Sache, die von der Sache ja gar nicht so besonders | |
| viel verstehen müssen, aber umso blindwütiger sind, umso fanatischer. | |
| Ungewöhnlich ist ganz sicher, dass der Kampf dieser Gruppen jetzt weltweit | |
| ausgefochten wird, in unterschiedlichen Milieus, in unterschiedlichen | |
| Gesellschaften. | |
| Es gibt die historische Entstehungsgeschichte der Spaltung zwischen | |
| Sunniten und Schiiten. Aber was unterscheidet die beiden | |
| religiös-theologisch? Ist es vor allem der Glaube der größten schiitischen | |
| Gruppe, der Zwölferschiiten im Iran, dass der 12. Imam, also der 12. | |
| Nachfolger des Propheten Mohammed, einst wiederkehren wird als eine Art | |
| Messias? | |
| Das spielt eine große Rolle, die Idee: Dieser Imam werde nach seiner | |
| Rückkehr die Menschheit erlösen von Tyrannei und Ungerechtigkeit, wobei | |
| „erlösen“ ein christlich konnotierter Ausdruck ist. Die Idee, dass manche | |
| Menschen Gott näher sind als andere, ist in sunnitischen Kreisen nicht | |
| völlig unbekannt. Aber sie glauben nicht, dass es unfehlbare Imame gebe und | |
| sie die Menschheit, auf jeden Fall aber die muslimische Gemeinschaft führen | |
| sollten. | |
| Hier spielt die Politik mit rein. | |
| Ja, aber es gibt Unterscheidungen, die sich eher in der Sphäre der | |
| Emotionen und der Religiosität abspielen, bei den Bildern und Mythen. Es | |
| ist vor allem das zwölferschiitische Selbstbild, eine unterdrückte Gemeinde | |
| zu sein, die zwar das Recht auf ihrer Seite hat, aber nicht die Macht. Die | |
| kultivierte Opferrolle ist ganz wichtig: Trauer um Figuren, die sich | |
| geopfert haben für die Gemeinde, die unterdrückt und um ihr Recht gebracht | |
| wurden. Das unterscheidet sie deutlich von den Sunniten, die diese | |
| Opferrolle nie kultiviert haben, auch nicht umgesetzt haben in Riten oder | |
| Festen. An dieser Fremdheit entzündet sich viel. | |
| Aber das sind doch sehr alte Geschichten. Wie kommt es, dass dies noch eine | |
| so starke Emotionalität entfacht, bis zu Selbstgeißelungen? | |
| Das ist überhaupt nicht ungewöhnlich. Die Christen betrauern ja auch den | |
| Tod Christi, und der ist noch viel länger her, auch da ist die emotionale | |
| Kraft, die sich daran knüpft, enorm. Es ist interessant, dass in der | |
| zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Tod des Prophetenenkels Husain von | |
| einigen schiitischen Intellektuellen umgedeutet wurde in ein freiwilliges | |
| Selbstopfer. Er sei ein Vorbild, wie man sich für die richtige Sache | |
| einsetzt und der Freiheit eine Gasse bahnt. | |
| Andererseits: Die Zwölferschiiten haben einen ganzen Staat, den Iran. Das | |
| ist nicht gerade eine Opferrolle. Sehen sie sich trotzdem als Opfer, weil | |
| sie in der Geschichte nicht so anerkannt waren wie die Sunniten? | |
| Ja, ich selbst sehe diese Opferrolle als Selbststilisierung, die anknüpft | |
| an gewisse historische Erfahrungen. Die Sunniten haben politisch ab dem 7. | |
| Jahrhundert obsiegt. An vielen Orten und über lange Zeit hinweg wurden | |
| Schiiten von den Sunniten unterdrückt oder an den Rand gedrängt. Aber es | |
| ist nicht richtig, dass die Schiiten in der Geschichte durchweg Opfer | |
| waren. Es gab mehrere schiitische Staaten, die stark waren – und die | |
| ihrerseits Sunniten unterdrückt haben. Das gilt insbesondere für die | |
| Safawiden, die vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert den Iran und | |
| angrenzende Gebiete beherrschten. Auch die Islamische Republik Iran, die | |
| seit 1979 besteht, ist ein Beispiel für eine Macht, die selbstbewusst und | |
| stark auftritt und sich durchsetzt gegen ihre Gegner, die auch die | |
| religiöse Waffe in die Hand nimmt. | |
| Der Opfermythos ist in der Geschichte oft politisch brisant: Wer sich als | |
| Opfer fühlt, der sieht seinen eigenen Kampf als Widerstand. Macht das die | |
| Brisanz dieses Mythos noch heute aus? | |
| Ich denke schon. Auf jeden Fall ist offenkundig, dass verschiedene | |
| politische Akteure hier anknüpfen können. Nun können aber auch sunnitische | |
| Islamisten, die nicht an den Opfermythos mit dem Kampf als Widerstand | |
| glauben, das gleiche Muster verfolgen, indem sie sagen: „Unser Kampf ist | |
| ein gerechter Kampf, der sich richtet gegen Überwältigung durch fremde, | |
| starke Mächte, in diesem Fall: den ‚Westen‘. Unser Kampf ist auch | |
| Widerstand!“ | |
| Gerade die so interpretierte Märtyrerrollen Alis und Husains könnten ja ein | |
| Anknüpfungspunkt für die sein, die in der Nachfolge von Ali sich selbst für | |
| die „Befreiung“ opfern. Ist das tatsächlich so? Nehmen die | |
| Selbstmordattentäter auf diese Ali-Geschichte Bezug? | |
| Kaum je. Die Selbstmordattentäter, die in den vergangenen Jahrzehnten | |
| aufgefallen sind, waren Sunniten, die eben nicht bei Ali oder Husain | |
| anknüpfen, sondern bei anderen Figuren, vor allem der Moderne. Das waren | |
| islamistische Aktivisten und Intellektuelle, die von der Staatsgewalt | |
| umgebracht wurden, in Ägypten etwa mehrere Führer der Muslimbrüder. Das ist | |
| aber eine ganz andere Traditionslinie. Wenn im Iran junge Frauen oder | |
| Männer in den Tod gegangen sind, dann in der Regel nicht im | |
| Selbstopferungs- oder Selbstmordmuster, sondern in dem der Verteidigung der | |
| islamischen Revolution beziehungsweise des Nationalstaats Iran. | |
| Selbstmordattentate spielen unter sunnitischen Islamisten eine viel größere | |
| Rolle. | |
| Nun gibt es eine kleine schiitische Minderheit auch im sunnitisch geprägten | |
| Saudi-Arabien. Sie hat nicht die vollen religiösen Rechte – aber geht es | |
| dieser Minderheit vielleicht besser als früheren schiitischen Gruppen in | |
| einer sunnitischen Mehrheitsgesellschaft? | |
| In Saudi-Arabien werden Muslime, die nicht die herrschende Doktrin | |
| vertreten, diskriminiert. Da ist nichts zu beschönigen. Auch Schiiten, die | |
| in den nordöstlichen Gebieten Saudi-Arabiens autochthon sind, fühlen sich | |
| zum Teil verfolgt und unterdrückt. Vor Entstehung des modernen saudischen | |
| Staates konnte der Staat diese Gebiete nicht eng kontrollieren. Das ist nun | |
| anders. Dazu kommt, dass manche Schiiten dort iranischer Herkunft sind, das | |
| gilt vor allem für bestimmte Gelehrtenfamilien. Die geraten dann in den | |
| Verdacht, die fünfte Kolonne Irans, also des politischen Gegners zu sein. | |
| Diese Verquickung von religiöser Andersartigkeit und vermuteter politischer | |
| Illoyalität ist immer verhängnisvoll. | |
| Anfang Januar gab es die Hinrichtung des schiitischen Scheichs Nimr. | |
| Ja, er hat die Unterdrückung der Schiiten in Saudi-Arabien sehr offen | |
| angesprochen. Da ist die Trennung zwischen religiöser Devianz und | |
| politischer Opposition übertreten worden. Diese Hinrichtung hat Öl ins | |
| Feuer gegossen und die Spannungen noch weiter verschärft. | |
| Es gibt die These, es habe in der schiitischen Geschichte so etwas wie eine | |
| größere Solidarität oder Sympathie für die Unterdrückten gegeben, da man | |
| selber oft zu ihnen gehörte. | |
| Das ist in der Geschichte nicht erkennbar – aber in der Moderne, im 20. | |
| Jahrhundert. In Zeiten der kolonialen Bedrohung sowie des antikolonialen | |
| Widerstands ist jedoch das Muster der, christlich gesprochen, Caritas oder | |
| tätigen Nächstenliebe sowohl bei den Sunniten als auch Schiiten wieder | |
| belebt worden, mit einer Stoßrichtung, die an die katholische | |
| Befreiungstheologie erinnert. Nach dem Motto: Wir kämpfen für die, die | |
| politisch unterdrückt werden, durch Kolonialmächte, durch den Westen, durch | |
| Tyrannen in den eigenen Staaten. Dieses Muster ist dann von Chomeini und | |
| von anderen schiitischen politischen Aktivisten aufgegriffen worden. | |
| War denn zumindest eine Zeit lang die Iranische Revolution und der Iran so | |
| expansiv, weil man das Gefühl hatte: Jetzt sind wir als frühere Underdogs | |
| endlich mal an der Macht? | |
| Ich glaube, die islamischen Revolutionäre waren überzeugt, das Rechte zu | |
| tun und die Wahrheit auf ihrer Seite zu haben. Und Menschen, die so etwas | |
| glauben, neigen dazu, dies auch der ganzen Menschheit mitzuteilen. | |
| Das war für viele attraktiv. | |
| Ja, aber das Echo war von Anfang an zwiespältig. Einerseits haben viele, | |
| auch außerhalb der schiitischen Kreise die Revolution als Revolution | |
| begrüßt, auch Sunniten, ja selbst Nichtmuslime. Linke Theoretiker in | |
| Ägypten, Indonesien oder in der Türkei ebenso wie linke Philosophen im | |
| Westen wie etwa Michel Foucault: Hier werfen Unterdrückte das koloniale, | |
| das tyrannische Joch aus eigener Kraft ab, sie befreien sich und andere. | |
| Das wurde gefeiert. Je mehr aber deutlich wurde, dass die islamische | |
| Revolution eine islamische ist, mit einer bestimmten Doktrin der klerikalen | |
| Machtausübung und einer Islamisierung von Politik, Recht, Wirtschaft und | |
| Gesellschaft, verblasste dieser Glanz. Denn auch ein Foucault wollte die | |
| Welt nicht insgesamt islamisiert – und er wollte vor allem keine Kleriker | |
| an der Macht sehen. | |
| Viele Menschen im Westen haben Angst vor dem Islam. Sie wünschen sich einen | |
| besänftigten Islam, vielleicht eine Art Euroislam. Welche Richtung hat mehr | |
| Theologen, die in eine solche Richtung gehen – die Schiiten oder die | |
| Sunniten? | |
| Die Mehrheitsverhältnisse sind so, dass die, die sich um einen offenen, | |
| oder meinetwegen: europäischen Islam bemühen, in der Mehrheit Sunniten | |
| sind, denn die schiitischen Gemeinden in Europa sind sehr klein. Es gibt | |
| aber auch Ausnahmen wie den in Deutschland sehr prominenten Navid Kermani. | |
| Er stellt seine schiitische Zugehörigkeit aber gar nicht in den | |
| Vordergrund. Er vertritt einen Islam, der nicht auf Abgrenzung aufbaut, | |
| sondern auf einer Sicherheit im eigenen Glauben, die es möglich macht, den | |
| Anderen anzuerkennen. Wer sich und seiner Religion sicher ist, muss nicht | |
| dauernd andere ausgrenzen, sich von ihnen abgrenzen, sie abqualifizieren | |
| oder sie womöglich bekämpfen. | |
| Aber sind solche Stimmen im öffentlichen Diskurs wirklich laut genug? | |
| Stimmen wie die Kermanis und Mouhanad Khorchides sind sehr wichtig. Sie | |
| erreichen zwar nicht die ganze Gesellschaft, aber auch ein Jürgen Habermas | |
| erreicht nicht die ganze Gesellschaft. Allerdings werden solche Stimmen | |
| noch nicht auf breiter Front in der arabischen Welt und im Iran rezipiert. | |
| Außerdem wird jemand dort leicht abqualifiziert, weil man sagt: Der lebt im | |
| Westen, er teilt ja unsere Erfahrung nicht. | |
| Kann man sagen, welcher Islam sich eher reformieren wird? Oder ist das so | |
| pauschal gar nicht zu sagen? | |
| Nein, das geht nicht so pauschal. In beiden Großgruppen arbeiten kleine | |
| Kreise an Reformen. Aber natürlich stellt sich die Frage: Was heißt | |
| „reformierter Islam“? Was wird da reformiert? Wichtige Köpfe verstehen | |
| unter Reform die Rückkehr zu den Quellen, die sie für fundamental erachten. | |
| Das ist selbstverständlich in erster Linie der Koran, aber auch Teile der | |
| Überlieferung, die auf den Propheten Mohammed zurückgeführt wird, also die | |
| Hadithe. Die Quellen werden im Lichte heutiger Hoffnungen, Erwartungen und | |
| Lebenswirklichkeiten neu durchdacht und interpretiert, so dass man nicht | |
| die Auslegung von Männern aus dem 9. bis 12. Jahrhundert als normativ | |
| betrachtet. Reform öffnet Türen – aber sie muss gut durchdacht werden. | |
| Warum? | |
| Auch die militanten Islamisten können zurück zu den Quellen gehen. Und die | |
| können zu ganz anderen Schlüssen kommen als die, die einen offenen, wenn | |
| man will: liberalen, toleranten Islam begründen möchten. | |
| Weil Sie das Männliche nun so betont haben: Wie steht es mit Theologinnen | |
| im islamischen Diskurs? Sind die sichtbar, gar einflussreich? | |
| In bestimmten Milieus, ja. Aber es sind Minderheitenstimmen. Und sie werden | |
| sehr schnell ausgegrenzt, weil man sagt: Ihr vertretet ein Linie, die nicht | |
| die Tradition widerspiegelt. Unter ihnen sind Juristinnen, die ebenfalls zu | |
| den Quellen zurückgehen, insbesondere zum Koran. Bestimmte Aussagen im | |
| Koran sind hoch problematisch, aber diese Frauen deuten sie neu. Solche | |
| Stimmen gibt es in der arabischen Welt, aber auch in Malaysia, Indonesien | |
| oder den USA. Aber auch hier heißt es rasch: Ja, die haben interessante | |
| Positionen, aber sie leben nicht bei uns, und was richtig sein mag für | |
| Malaysia, ist nicht richtig für uns in Saudi-Arabien. | |
| Man kann es also immer abtun. | |
| Ja, man kann es immer abtun. Aber wassoll‘s?!So ist es nun mal. Wenn sich | |
| jemand in Korea eine neue Form des Christentums ausdenkt, kann man das in | |
| Europa ebenso abqualifizieren mit dem Argument, das passe hier nicht. Diese | |
| Waffe steht immer zur Verfügung. Das spricht aber nicht gegen diese | |
| Ansätze. Die muslimischen Reformstimmen sind ein Zeichen der Hoffnung. | |
| 4 Mar 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Philipp Gessler | |
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