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# taz.de -- Altersschätzung bei Flüchtlingen: Im Zweifel volljährig
> Das Jugendamt erklärt jugendliche Flüchtlinge aufgrund fragwürdiger
> Polizei-Informationen für volljährig – auch wenn es selbst anderer
> Meinung ist.
Bild: Auch die Wasserprobe kann als Methode der Altersbestimmung dienen
BREMEN taz | Mit einer „qualifizierten Inaugenscheinnahme“ sollen
MitarbeiterInnen des Bremer Jugendamtes einschätzen, wie alt ein
jugendlicher Flüchtling ist – eigentlich. In Wahrheit, sagt Jan Sürig,
Anwalt für Migrationsrecht, sei das Jugendamt angehalten, „im Zweifel für
die Volljährigkeit“ zu plädieren.
Als Basis dafür diene eine sogenannte „K- 54“- Meldung: Das ist eine
Meldung des Kommissariats für Migrationsdelikte, wo bereits polizeilich
gespeicherte Daten über den Jugendlichen vermerkt sind. „Die können auf
Schätzungen beruhen, auf Angaben, die der Jugendliche gemacht hat oder auch
auf Papieren, die er bei sich hatte – was genau den Angaben zu Grunde
liegt, ist nicht bekannt, nicht einmal, wer die Angaben gespeichert hat“,
sagt Sürig.
Ist ein Jugendlicher laut K-54-Meldung volljährig, „wird das vom Jugendamt
so übernommen – auch dann, wenn es selbst zu einem anderen Ergebnis
gekommen ist“, sagt Sürig. So heißt es in einem Beschluss des
Verwaltungsgerichts Bremen vom 4. Februar, bei der es um eine Jugendliche
aus Somalia geht: „Äußere Merkmale, die für die Volljährigkeit (...)
sprechen könnten, wurden von den Mitarbeitern des Jugendamtes nicht
festgestellt. Nach ihrer Ansicht stimmten das Verhalten und das äußere
Erscheinungsbild mit einer 16-Jährigen überein.“ Gleichwohl hätten sie
notiert, „dass eine K-54-Rückmeldung abgewartet werden müsse“. Die erklä…
das Mädchen für volljährig, woraufhin das Amt für Soziale Dienste die – b…
Minderjährigen vorgeschriebene – Inobhutnahme zurücknahm.
Aktuell, berichtet Sürig, habe er mit einem Jugendlichen zu tun, „bei dem
selbst die Familienrichterin keine Zweifel daran hatte, dass er nicht älter
als 16 ist“. Sie habe einen Vormund für ihn bestellt, „aber es gibt eine
K-54-Meldung, die besagt, der Junge ist 18. Nun muss auch hier das
Verwaltungsgericht entscheiden“. Und das, sagt er, geschehe stets nach
Aktenlage, weil das Gericht in den Eilverfahren die Jugendlichen nie selbst
in Augenschein nehme. Vielmehr stütze es sich auf „Argumente“ wie in diesem
Schreiben aus der Rechtsabteilung der Sozialbehörde auf einen Antrag von
Sürig gegen eine seiner Meinung nach falsche Altersfeststellung: „Die
Antragsgegnerin übernimmt das von der erkennungsdienstlichen Behandlung
mitgeteilte Geburtsdatum als wahr.“
Dabei, sagt Sürig, gebe es viele Gründe dafür, warum manche Jugendliche
während ihrer Flucht Papiere mit falschem Geburtsdatum bei sich führten:
„Viele wollen auf der Balkanroute nicht in ein Jugendhilfesystem, über das
sie Horrorgeschichten gehört haben.“ Auch sei es für Minderjährige oft
schwieriger, Hilfe oder Begleitung während der Flucht zu erhalten, „also
tun sie so, als seien sie volljährig“. Es gebe aber auch viele Fälle, in
denen niemand wisse, wie die Angaben in der K-54-Meldung zustande gekommen
seien.
Zugrunde gelegt wird sie dennoch, und wie man das bei Gericht „verkauft“,
dafür gibt es sogar „Handlungsempfehlungen“: In einer Mail an
JugendamtsmitarbeiterInnen von Susanne Heyn, Rechtsreferats-Leiterin bei
der Sozialsenatorin, heißt es dazu: „Wenn zunächst jemand als
Minderjähriger eingeschätzt wird und dann durch polizeiliche Ermittlungen
sich herausstellt, dass er älter ist (...), dann muss bei der Rücknahme
(...) das Ermessen richtig ausgeübt werden. D. h., es bedarf auch einer
Erklärung, warum auch die Behörde nach den polizeilichen Erkenntnissen
jetzt doch der Meinung ist, dass jemand volljährig ist. Ich habe es in
einem Fall so dargestellt, dass zunächst Zweifel an der Volljährigkeit
bestanden und daher vorsorglich in Obhut genommen wurde, aber nach der
Mitteilung der POL (...) Zweifel ausräumen konnte und daher „nunmehr“ von
Volljährigkeit ausgegangen wird.“
„Befremdlich“ findet auch Bernd Schneider, Sprecher der Sozialsenatorin,
Heyns Mail vom 5. Februar. „K 54 sticht“ habe zwar einmal für die
Altersfestsetzung gegolten, „aber das Verfahren hat sich geändert: Die
Einschätzung der Jugendamtsmitarbeiter ist keinesfalls hinfällig, auch wenn
die polizeiliche Meldung etwas anderes aussagt“. Sowohl die
Inaugenscheinnahme als auch die Meldung müssten in die abschließende
Beurteilung einfließen.
Minderjährige Flüchtlinge genießen besonderen Schutz: Sie werden vom
Jugendamt in Obhut genommen und können nicht einfach abgeschoben werden.
Dennoch tauchen viele ab: 156 sind in den vergangenen Monaten allein in
Bremen verschwunden, das teilte Sozialstaatsrat Jan Fries in der
Stadtbürgerschaft am vergangenen Dienstag mit.
Sürig kennt eine dieser Jugendlichen: „Es handelt sich dabei um ein
Mädchen, das für volljährig erklärt wurde, obwohl sie nach eigenen Angaben
erst 16 ist.“ Offiziell gelte sie noch als minderjährig, weil die
Bestimmung ihres Alters noch nicht rechtskräftig sei. „Es kann sein, dass
sie wie viele andere Jugendliche aus Angst vor Umverteilung untergetaucht
ist, aber es ist auch möglich, dass sie wegen der Altersfeststellung
abgehauen ist“, sagt Sürig.
25 Feb 2016
## AUTOREN
Simone Schnase
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Migration
Altersfeststellung
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