# taz.de -- Freiheit und Strafe: Aussage gegen Aussage | |
> Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) plant, Aussagen zu Sexualstraftaten per | |
> Video aufzuzeichnen. Von mehr Personal ist keine Rede. | |
Bild: Die Aussage per Video aufzuzeichnen ist bei Sexualdelikten oft keine gute… | |
BREMEN taz | Die niedrige Verurteilungsquote bei Sexualstraftaten in Bremen | |
(taz berichtete) will Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) nicht hinnehmen. | |
„Alle Verfahrensbeteiligten müssen künftig an jeder Stellschraube drehen, | |
um den Opfern neben ihrem erlittenen Leid zumindest Gerechtigkeit | |
widerfahren zu lassen und möglichst viele Täter zur Verantwortung zu | |
ziehen“, sagte er. | |
Dazu stellte er eine Reihe von Maßnahmen vor. Im Wesentlichen sind dies die | |
Verbesserungsvorschläge aus einer von ihm in Auftrag gegebenen Studie zur | |
Strafverfolgung von Verbrechen wie Vergewaltigung und sexuelle Nötigung im | |
Land Bremen. Aus der Studie geht hervor, dass die Verurteilungsquote in | |
Bremen mit 5,5 Prozent noch niedriger ist als der Bundesdurchschnitt. | |
Ausschlaggebend dafür, ob ein Beschuldigter in Bremen angeklagt wird, ist | |
dabei die Qualität der Opferaussage, stellten die ForscherInnen des | |
Instituts für Polizeiforschung an der Hochschule Bremen fest. | |
Laut der Psychologin Daniela Müller vom Frauennotruf Bremen ist es typisch, | |
dass sich Opfer von Straftaten – zumal wenn diese von Bekannten oder gar | |
Geliebten begangen wurden – nur lückenhaft erinnern oder sich | |
widersprechen. | |
Daher sollen jetzt laut Mäurer die Verfahrensbeteiligten von Justiz und | |
Polizei für die Vernehmungen von Opfern besonders geschult werden. Die für | |
die Studie befragten Staatsanwältinnen hatten hier selbst Lücken | |
eingeräumt. Um den Opfern zu ersparen, mehrmals vernommen zu werden, | |
kündigte Mäurer an, dass Vernehmungen mit Audio-Geräten aufgezeichnet und | |
anschließend verschriftlicht werden. Für Letzteres, so steht es in der | |
Studie, fehlt es allerdings an Schreibkräften bei der Polizei. | |
Auch Videovernehmungen sollen Mäurer zufolge eingesetzt werden. Aber nicht | |
bei der Polizei, wie es gerade die Grünen gefordert haben, sondern durch | |
einen Richter. Zu dem Thema für die Studie befragte PolizistInnen, | |
StaatsanwältInnen und RichterInnen hatten zudem vorgeschlagen, erst einmal | |
zu erproben, ob solche richterlichen Videovernehmungen tatsächlich „zu | |
einer besseren Aufklärung der Sachverhalte beitragen können“, wie es am | |
Schluss der Studie heißt. „Dazu soll darauf geachtet werden, dass die | |
Technik den aktuellen technischen Standards entspricht.“ | |
Für viele Frauen käme eine Videovernehmung allerdings nicht infrage, sagt | |
Daniela Müller vom Frauennotruf. Sie berät und begleitet dort Frauen, die | |
sexualisierte Gewalt erfahren haben. „Für einige ist es eine ganz | |
unangenehme Vorstellung, dass sie gefilmt werden, sie haben Angst, dass der | |
Täter eine solche Aufzeichnung sehen und vielleicht sogar verbreiten | |
könnte“, sagt Müller. Auch seien viele Menschen gehemmt, wenn sie wüssten, | |
sie werden gefilmt. „Der Gedanke ist dann: ‚Jetzt bloß nicht verheddern, | |
jedes Wort hat Gewicht.‘“ | |
Aufgegriffen hat Mäurer noch weitere Vorschläge von ForscherInnen, | |
ErmittlerInnen und RichterInnen: Unter anderem soll es mehr Ermittlungen im | |
Umfeld des Tatverdächtigen geben, „wo es sinnvoll und mit der | |
Unschuldsvermutung vereinbar erscheint“. Die Auswertung aller 145 Verfahren | |
zu angezeigten Sexualstraftaten aus dem Jahr 2012 durch ein Team des Bremer | |
Instituts für Polizei und Sicherheitsforschung (Ipos) hatte ergeben, dass | |
solche Umfeldermittlungen nur äußerst selten durchgeführt wurden. „Auch von | |
Seiten der Richterschaft wird in diesem Zusammenhang die Auffassung | |
vertreten, dass notwendige Ermittlungen gerade bei schwerwiegenden Delikten | |
nicht deshalb unterbleiben dürfen, weil sonst angeblich gegen die | |
Unschuldsvermutung oder den Datenschutz verstoßen werde“, heißt es in der | |
Studie. | |
Nach den Medienberichten über die niedrige Verurteilungsquote hatte die | |
Vereinigung Niedersächsischer und Bremischer Strafverteidigerinnen und | |
Strafverteidiger in einer Pressemitteilung auf die Möglichkeit von | |
Falschaussagen hingewiesen. Der Verband befürchtet, dass „Unschuldige unter | |
dem Druck eines vermeintlichen Opferschutzes verurteilt werden“. | |
Daniela Müller vom Frauennotruf weist darauf hin, dass nur ein Bruchteil | |
aller Sexualstraftaten überhaupt angezeigt wird. Nach einer Untersuchung im | |
Auftrag des Bundesfamilienministeriums hat jede siebte Frau nach ihrem 16. | |
Lebensjahr strafrechtlich relevante Formen von sexualisierter Gewalt | |
erfahren. Hinzu kämen all die Erlebnisse, die nicht geahndet werden, weil | |
sie nach dem Gesetz keine Straftat darstellen oder wegen Geringfügigkeit | |
eingestellt werden, sagt Müller. Dazu gehöre Angrabschen oder sexuell | |
konnotierte Beleidigungen. | |
Die Aufklärung und juristische Bewertung von Sexualstraftaten sei | |
schwierig, sagt Müller, weil es häufig nicht mehr Beweise gebe als die | |
Aussage des Opfers. Deshalb begrüße sie es, wenn der Innensenator jetzt | |
ankündige, die Ermittlungsarbeit zu verbessern. | |
Dazu hätte für die Forschergruppe sowie die befragten ExpertInnen auch | |
gehört, Polizei und Justizbehörden personell besser auszustatten und sie | |
fortzubilden. Dazu hat der Innensenator sich nicht geäußert. | |
21 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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