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# taz.de -- Leserinnen über sexuelle Übergriffe: Hey, lass das!
> Vor Kurzem veröffentlichten wir Berichte unserer AutorInnen, in denen sie
> von sexueller Gewalt im Alltag erzählten. Seither haben uns viele Frauen
> geschrieben.
Bild: Auf dem Heimweg.
Manchmal genügt es, eine Frage anders zu stellen. Nicht: „Welche sexuellen
Übergriffe hast du erlebt?“, sondern: „Wie geht es dir auf dem Heimweg?“
Jede Frau hat einen Weg nach Hause. Auch nachts. Manchmal geht es durch
belebte Straßen, manchmal vorbei an dunklen Ecken. Manchmal treffen die
Frauen auf Gruppen von Männern, was gut oder schlecht sein kann, manchmal
gehen sie einsame Wege entlang, wo jedes Knacken Gefahr bedeuten kann.
Die Ereignissen in der Silvesternacht rund um den Hauptbahnhof in Köln
führten zu großer Empörung, weil die sexualisierte Gewalt, der Frauen dort
ausgesetzt waren, mit der Herkunft der möglichen Täter verknüpft wurde –
und damit auch mit dem Flüchtlingsdiskurs. Als wären Frauen in Deutschland
bis zum 31. Dezember 2015 sicher gewesen auf der Straße. Dass so darüber
berichtet wurde, bestätigt, dass sexuelle Übergriffe von denen, die jetzt
empört sind, vorher kaum als Gewalt erkannt wurden.
Sexualisierte Gewalt kam und kommt in Deutschland in allen Schichten und
Milieus vor – auch in dem, wo Migration eine Rolle spielt. Vielfach werden
sexuelle Übergriffe auf Frauen (und lange auch auf Kinder) dabei nicht als
Mangel an Zivilisation gesehen, sondern als Kavaliersdelikte. Die
Rechtsprechung trägt dieser Verharmlosung Rechnung: Anzeigen bringen den
Frauen erfahrungsgemäß bis heute wenig – nur bei jeder achten angezeigten
Vergewaltigung kommt es zu einer Verurteilung.
Nach der Veröffentlichung der Heimweggeschichten in der taz.am wochenende
vom 16./17. Januar 2016, [1][auf taz.de] und im taz-Blog „Heimweg“ auf
[2][blogs.taz.de/heimweg], meldeten sich über hundert Frauen und ein paar
Männer und schickten weitere Selbstzeugnisse. Jede Form sexualisierter
Gewalt ist schlimm und wird als Ausnahmesituation wahrgenommen, die
Geschichten vom Heimweg zeigen jedoch, dass Übergriffe fast alltäglich
sind. Die Normalität schockiert.
Der Mangel an rechtlichem Schutz schockiert ebenfalls: Anmache und sexuelle
Übergriffe werden selten geahndet. Und sogar wer eine Vergewaltigung
anzeigt, kann bei einem Strafverfahren erleben, dass das Gericht am Ende
entscheidet, dass es gar keine Vergewaltigung war. Denn im deutschen
Strafrecht ist eine Vergewaltigung nur eine Vergewaltigung, wenn auch
physische Gewaltspuren hinterlassen wurden oder sich das Opfer nachweisbar
wehrte. Juristinnen verlangen, dass dieser Nötigungsabsatz im
Sexualstrafrechtsparagrafen reformiert wird, der Europarat verlangt es,
Antigewaltprojekte fordern es ebenfalls schon lange. [3][Ein entsprechender
Gesetzentwurf kommt kaum voran.]
Das Gesetz schützt Frauen nicht oder nur unzureichend vor sexualisierter
Gewalt. So werden sie zweifach zu Opfern. Deshalb hier Protokolle von
Frauen, die sich wehrten:
## +++ Laut werden
Ich saß nachmittags in einem Bus in Münster. Viele Jugendliche waren drin.
Mir gegenüber saß ein Schülerin mit asiatischen Gesichtszügen, klein,
zierlich, leise. An der Haltestelle steigt ein junger Typ ein, groß, stark
übergewichtig, die Leute checkend. Er bemerkt diese Schülerin, grinst,
setzt sich neben sie. Er taxiert sie, erdrückt sie fast mit seiner
Anwesenheit. Sie traut sich kaum zu atmen. Es wird mir zu viel. „Jetzt
reicht es ja wohl“, sage ich laut und taxiere ihn von oben herab. „Wurde
dir kein Respekt beigebracht? Nimm gefälligst Abstand.“ Mein Blick starr
auf seinem Gesicht. Kurz versucht er, sich zu wehren und fordert mich auf,
ihn nicht anzugucken. „Ach?“, frage ich, „ seit wann ist blöd gucken für
Jungs reserviert? Ist es unangenehm, angestarrt zu werden?“ Danach ist er
still, obwohl seine verstohlenen Blicke mich töten könnten – wenn sie’s
denn könnten. Mein Blick bleibt so lange auf sein Gesicht gerichtet, bis er
aussteigt. Die Schülerin schaut mich dankbar an, traut sich aber nicht,
etwas zu sagen.
Kein anderer Fahrgast hat etwas gesagt. Warum, warum sind alle so still?
Haben sie keine Freundin, Schwester, Partnerin, Mitschülerin, Tante,
Kollegin, Mutter, Frau …? Wünschen sie sich nicht, dass diesen geholfen
wird, wenn sie in solche Situationen geraten? Ist Scham etwa auch auf der
Seite der Zuschauenden? Ist herablassendes, respektloses Verhalten
gegenüber Frauen und Mädchen salonfähiger als das Einstehen für
Menschenrechte, die bekanntlich auch für Frauen und Mädchen gelten?
Aus Erfahrung sage ich, dass es sich lohnt, es anzusprechen. Es ist
befreiend, es regt den Kreislauf an, macht wach und aufmerksam. Deshalb,
Frauen und Mädchen, werdet laut! Wir haben ein Recht darauf, uns
einzumischen! Männer und Jungen, wenn ihr Zeugen seid, denkt daran, dass es
eure Freundin, Schwester, Partnerin, Mitschülerin, Tante, Kollegin, Mutter,
Frau ... sein könnte und handelt in ihrem Namen. Bezieht Position, mischt
euch ein. Alles andere sind nur Lippenbekenntnisse.
Susanne Böcker, 54, Förderlehrerin, Münster
## +++ Scheherazade
Ich fahre auf eine Bloglesung nach Frankfurt. Der letzte Zug nach Hause
fährt schon um kurz nach zwölf. Der Freund eines Bekannten, ein Mann, Mitte
vierzig, bietet mir an, mich mitzunehmen. Die Fahrt sollte etwa eine
Dreiviertelstunde dauern, doch wir sind schon mehr als zwei Stunden lang
unterwegs. Er habe sich verfahren, sagt er, und findet den Weg nicht mehr.
Wir fahren durch dunkle Dörfer und über die Berge in den Wald. Auf einer
Bergkuppe hält er an und sagt, die Nacht sei so schön, wir sollten
spazieren gehen.
Die ganze Fahrt über habe ich von meiner Familie erzählt, von der Schule.
Jetzt habe ich ein komisches Gefühl. Aber ich rede weiter, erzähle und
erzähle. Nach einigen Metern kehrt er um, sagt, wir sollten vielleicht doch
weiterfahren. In einer Kneipe in der Nähe meines Elternhauses trinken wir
noch ein Bier. Ich rede immer weiter und habe irgendwann – vielleicht
damals schon, vielleicht auch erst heute – so ein mulmiges Gefühl, als
solle hier etwas vergessen werden, das gar nicht passiert ist.
Nora Lessing, 28, Studentin und freie Journalistin
## +++ Die Nagelfeile
Als junges Mädchen fühlte ich mich stark und frei. Wir wohnten in einem
Vorort von Hamburg, und ich fuhr oft mit der U-Bahn in die Stadt und
zurück. Einmal, abends, sah ich schon beim Ausgang drei Jugendliche, die
für mich sofort Gefahr ausstrahlten. Ich rief meinen Vater an – Handys
waren damals noch nicht verbreitet –, ob er mich abholen könne, da wären
seltsame Typen. Nein. Ich ging also los, und sie machten ihre sexistischen
Sprüche. Ich klingelte an einer Haustür, wurde eingelassen und durfte noch
einmal meinen Vater anrufen, der aber meinte, ich könne doch die zehn
Minuten zu Fuß gehen. Um die Kurve waren die Typen noch da. Zum Glück hatte
ich meine Nagelfeile in der Manteltasche vergessen. Die rammte ich dem
mittleren zwischen die Beine. Sein Geheul lenkte die beiden anderen ab, und
ich habe geduckt irgendwie einen Hürdenlauf durch die Vorgärten nach Hause
geschafft – Adrenalin. Meine Eltern haben diese Geschichte immer vergessen.
Ein anderes Mal, lesend in der Regionalbahn, merkte ich, dass der Mann mir
gegenüber onanierte. Ohne Nachzudenken habe ich ihm meine Zeitung um die
Ohren gehauen und geschimpft. Ich ging empört davon und durch den Zug und
bemerkte erst da, dass es keinen weiteren Fahrgast gab.
Ein anderes Mal habe ich mich leider nicht verteidigen können. Auf dem Weg
von der U-Bahn, auf einem Fußweg neben der Straße, sprach mich ein Mann an,
und ich sah in seinen Augen sofort, dass er mir etwas antun wollte. Ich war
so unwissend, dass ich seinen Satz: „Ich will an deine Mäuse“, nicht so
verstanden habe, wie er es wohl meinte. Ich habe beruhigend geredet, an
alles gedacht, was ich über Vergewaltigung gelesen hatte, versucht, ihn
näher zur Straße zu lotsen, aber er hat es geschafft, sich an meinem Bein
zu befriedigen und ging hochmütig davon: „Mehr wollte ich doch gar nicht!“
Die Polizei wollte dann nicht zur U-Bahn, um ihn noch zu schnappen, sondern
hat meine Personalien aufgenommen. Überhaupt wäre es in ihren Augen gar
keine Vergewaltigung. Die Demütigung habe ich jahrelang nicht verwunden.
Ohne die Frauenbewegung, die damals stark war, wäre ich gar nicht darüber
hinweg gekommen. Meine Familie und mein Freund fanden, dass ich nach etwa
sechs Wochen wirklich hätte darüber weggekommen sein müssen. Nein!
Vergewaltigung bedeutet lebenslänglich für die Frau, die sie erleidet.
Die Autorin möchte anonym bleiben. Sie ist 61 Jahre alt
## +++ Kickboxen
Ich gehe in einer Sommernacht allein nach Hause, obwohl meine Freunde mir
sagen, das sei bescheuert – damals weigere ich mich noch, bei jedem
nächtlichen Spaziergang mit einer Vergewaltigung zu rechnen. Da merke ich,
wie ein weißer Transporter neben mir langsamer wird. Der Fahrer ruft aus
dem Fenster: „Soll ich dich mitnehmen?“ Erst ignoriere ich ihn, als er noch
einmal fragt, sage ich: „Nein danke“ und gehe schnell weiter. Der Typ fährt
rechts ran, steigt aus, stellt sich mir in den Weg und sagt: „Komm schon,
ich nehme dich mit.“ Ich sage wütend: „Nein danke!“ und versuche, an ihm
vorbeizugehen. Er packt mich, ich schubse ihn weg und renne weiter. Er
steigt zurück ins Auto und fährt weiter, langsam.
Sonst ist niemand auf der Straße, ich kann nirgends abbiegen, trage zu
allem Überfluss Flipflops. Ich vergesse, dass ich ein Handy habe.
Der Fahrer steigt wieder aus, rennt hinter mir her, ruft „Komm mit mir
mit!“, packt mich von hinten, greift mir zwischen die Beine. Ich spüre
seinen Speichel in meinem Gesicht. Mein unglaubliches Glück: Kurz zuvor
hatte ich beim Kickboxen Ellenbogenhaken geübt. Fun Fact: Einige meiner
Freunde wollten mir das Boxen ausreden, „weil es unweiblich ist“. Ich wende
also meine neu erworbenen Fähigkeiten an, das bringt ihn erst mal aus dem
Konzept, ich kann mich lösen und wegrennen. Als ich mich umdrehe, sehe ich,
dass er zurück ins Auto steigt und links in eine kleine Straße abbiegt. Als
er außer Sichtweite ist, verstecke ich mich auf einem Parkplatz hinter
einem Auto, weil ich das Gefühl habe, dass er noch nicht aufgegeben hat.
Tatsächlich sehe ich den weißen Transporter aus der nächsten Seitenstraße
kommen und langsam die Straße abfahren. Er entdeckt mich nicht und fährt
schließlich in Richtung Autobahn davon.
Da ich in keiner Sekunde auf das Nummernschild geachtet habe und dem Täter
nicht ins Gesicht sehen wollte, bin ich nicht auf die Idee gekommen,
Anzeige zu erstatten. Ich habe es meinen Freunden erzählt, nicht aber
meinen Eltern – ich wollte nicht, dass sie mir irgendwas verbieten.
Helena K. aus Krefeld
## +++ Wut zulassen
Ich war zwanzig Jahre alt, Studentin, studierte Betriebswirtschaft in
Berlin. Ich hatte lange blonde Haare, ich bin klein, sportlich. Es
passierte in der U-Bahn, später Nachmittag. Im Abteil machte sich eine
Gruppe Arabisch sprechender junger Männer lautstark bemerkbar. Als ich an
der Osloer Straße ausstieg, folgten sie mir und riefen mir „Du Schlampe, du
Fotze!“ hinterher. Ihr Verhalten ärgerte mich sehr, doch ich sagte nichts,
ging weiter. Auf der Rolltreppe stellten sie sich dicht hinter mich. Dann
fasste einer mir an den Hintern und rieb seine Hand. Das war zu viel.
Schlagartig erfasste mich tiefe Wut, ganz körperlich, ich drehte mich um.
Aus der Drehung verpasste ich dem Typen einen perfekten Kinnhaken mit der
rechten Faust. Der Mann taumelte nach hinten, und ich sah Angst in seinen
Augen. Diesen Blick habe ich nie vergessen. Ich hatte bislang nur einmal
meinen weitaus größeren stärkeren Bruder einen Kinnhacken verpasst und
wusste deshalb um die Wirkung. Ich war immer noch sehr wütend. Inzwischen
hatten sich die anderen Männer um mich geschart. Doch sie schienen etwas
irritiert, sie beschimpften mich, hielten aber Abstand. Ich schimpfte
zurück. Ein Passant, ein älterer Mann in Anzug griff ein, stellte sich vor
mich, befahl den Typen aufzuhören und wegzugehen. Auch ihn beschimpften die
Männer, zogen sich dann doch zurück. Später, ohne Adrenalin, bekam ich
weiche Knie, aber – boah – ich fühlte mich so gut, ich habe mich gewehrt.
Es ist gut gegangen.
Lena Banak, 37, Betriebswirtin
## +++ Glauben
Eine Leserin fragte in einem Brief an die Redaktion, wie wir die Berichte
der Frauen verifizieren, denn das Grundprinzip des Journalismus will, dass
jede Aussage kritisch betrachtet wird. Nur, wie können wir prüfen, ob die
Frauen das, was sie erlebt haben, erlebt haben?
Wer den Selbstzeugnissen der Frauen nicht glaubt, setzt fort, was ihnen
beklagenswerterweise immer noch und immer wieder passiert: dass man ihre
Aussagen in Zweifel zieht.
23 Jan 2016
## LINKS
[1] /!5268825/
[2] http://blogs.taz.de/heimweg/
[3] /Verschaerfung-des-Sexualstrafrechts/!5268551/
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