| # taz.de -- Köln und sexualisierte Gewalt weltweit: Der Grapscher in meinem Ha… | |
| > Mit einem Text über Köln kann man sich nur unbeliebt machen. Unsere | |
| > Autorin probiert es trotzdem: Sie ist mit einem „Nordafrikaner“ zusammen. | |
| Bild: So nah. | |
| Vielleicht sollte ich es lassen, diesen Text zu schreiben. Es kann nur | |
| schiefgehen. Er wird mir um die Ohren gehauen werden. Von allen Seiten. Ich | |
| sehe es schon kommen. Im Rausch der medialen Hysterie kann ich mich mit | |
| einem weiteren Text zu den „Angriffen auf deutsche Frauen in der | |
| Silvesternacht durch Horden von Nordafrikanern“ nur in die Nesseln setzen. | |
| Und irgendwie ist ja auch schon alles gesagt. | |
| Ich bin übrigens mit so einem „Nordafrikaner“ zusammen. Wir haben uns wie | |
| die meisten Paare unseres Alters auf – nein, nicht auf dem | |
| Bahnhofsvorplatz, sondern auf einer Party kennengelernt. Das war in einer | |
| Zeit, als die Bezeichnung „Mitbürger mit Migrationshintergrund“ sehr schick | |
| war in Deutschland. Der Mimigrahi und ich wurden also ein Paar, und seitdem | |
| hat Deutschland viele Debatten und unsere Beziehung viele politisch | |
| korrekte Bezeichnungsepochen durchlaufen. | |
| Es macht mir große Freude, etwaige Titel auf meinen Freund anzuwenden. Wenn | |
| ich ihn ärgern möchte, nenne ich ihn schlichtweg Araber. Er präzisiert dann | |
| gern, er sei Berber. In der Hinsicht ist er ausgesprochen deutsch. Genau | |
| genommen ist er sowieso deutsch, denn er hat einen Pass der Bundesrepublik | |
| Deutschland. Doch wie ich mich von einem Beamten einer Stadtverwaltung | |
| unlängst habe belehren lassen, ist mein Freund nur ein „Passdeutscher“. Ich | |
| musste erst einmal googeln, was das ist. Kein schönes Wort, aber nun gut. | |
| Im Kopf, finde ich, ist mein Freund allerdings ziemlich deutsch. Denn er | |
| ist, wie der Araber-Berber-Einwurf zeigt, Meister des Präzisierens und | |
| damit voll auf Staatslinie. Mit jeder neuen Debatte über Zugewanderte und | |
| Nichtdeutsche lassen sich Politiker, Medien und Freunde der politischen | |
| Korrektheit immer neue, vermeintlich noch präzisere Untertitel für | |
| Untergruppen einfallen. Differenzierte Pauschalisierung nennt man das wohl. | |
| Seit der Silvesternacht bin ich nun also umgeschwenkt auf „Nordafrikaner“. | |
| Araber ist zu allgemein. Es würde die Syrer einschließen, die Flüchtlinge. | |
| Und die waren ja gar nicht dabei. Außerdem sind die Opfer, und zwar | |
| ausschließlich. Dass sich unter ihnen möglicherweise Menschen, also | |
| Individuen, vielleicht auch nicht mal so nette, befinden – ausgeschlossen. | |
| An dieser Stelle werden mir die gern zitierten „Gutmenschen“ den Text um | |
| die Ohren hauen, ich weiß. Aber damit kann ich leben, denn ich bin auch | |
| einer. | |
| ## Hand am Hintern | |
| Also, mein Freund, der „Nordafrikaner“, ist in Marokko geboren, zufällig | |
| übrigens. Ob ich wohl anders auf seine Annäherungsversuche reagiert hätte, | |
| wenn „Köln“ vor unserem ersten Treffen passiert wäre? Ich weiß es nicht. | |
| Aber was ich weiß, ist, dass er mich bei unserem ersten Treffen nicht | |
| begrapscht, sondern sich ganz „zivilisiert“ mit mir unterhalten hat. | |
| An dieser Stelle werden mir die Frauen, die in Köln belästigt wurden, den | |
| Text um die Ohren hauen, weil ich vermeintlich trivialisiere, was ihnen | |
| passiert ist. Ich sehe schon die Kommentare vor mir, dass ich verharmlose | |
| und die Gewalt relativiere, dass ich die Opfer verhöhne, dass ich anders | |
| darüber dächte, wenn es mir passiert wäre. Aber hier muss ich Sie | |
| ausdrücklich bitten, liebe Kritiker, lesen Sie den Text bis zum Ende! | |
| Nun, es ist mir passiert. Zwei Jahre lang, jeden Tag. Wir sind erst seit | |
| ein paar Wochen wieder in Berlin. Wir waren vorher in Ägypten, der Hochburg | |
| der sexuellen Belästigung. „Taharrush“, also Belästigung, war das erste | |
| arabische Wort, das ich in Kairo gelernt habe. | |
| Ein Selbstversuch: Ich laufe an einem sonnigen Apriltag über eine der | |
| vielen Nilbrücken. Ich trage eine weite, lange Stoffhose, ein unauffälliges | |
| T-Shirt mit halblangen Ärmeln, flache Schuhe, dezentes Make-up. Und | |
| trotzdem kleben die Blicke der Männer an meinem Körper. Ich fühle mich | |
| nackt. Die Bilanz nach etwa zehn Minuten: acht Liebesgeständnisse, viermal | |
| den Kosenamen „Pussy“ verliehen bekommen, eine fremde Hand am Hintern. | |
| Ja, ekelhaft, erniedrigend, die fieseste Waffe, die man gegen eine Frau | |
| einsetzen kann, weil man als Frau kaum eine Möglichkeit hat, ihr | |
| auszuweichen. Und sei man noch so selbstbewusst und emanzipiert. In Ägypten | |
| hätte ich meine Brüste gern einfach mal zu Hause gelassen, um ein bisschen | |
| mehr Ruhe zu haben. „Taharrush“ ist Volkssport, und ich habe mir zwei Jahre | |
| lang jeden Tag den Kopf zerbrochen über die Gründe. | |
| ## Grapscher und Ritter | |
| Ich habe es mit dem Islam versucht. Es muss daran liegen, dass der Mann | |
| sich im Islam der Frau überlegen fühlt, sie als sein Eigentum ansieht. Aber | |
| was, wenn unter meinen Nilbrücken-Bekanntschaften auch koptische Christen | |
| waren? Außerdem traf ich mit jedem Tag mehr männliche Muslime, die nicht in | |
| mein superschlüssiges Schema passten. Die genauso angewidert und empört auf | |
| ihre primatenhaften Mitmenschen reagierten wie ich. Die sich zutiefst | |
| geschämt haben für das, was seit der Revolution immer wieder auf | |
| Großveranstaltungen passiert und den Ereignissen von Köln auffallend | |
| ähnelt. Männermassen umzingeln eine Frau, greifen sie an, vergewaltigen | |
| oder misshandeln sie. | |
| Ich habe das live gesehen auf dem Tahrirplatz während der Amtseinführung | |
| von Präsident Abdel Fattah al-Sisi. Es kursiert auch ein Video davon im | |
| Internet, das mich schon allein vom Anschauen so nachhaltig geschockt hat, | |
| dass ich danach nie wieder zu einer Großveranstaltung in Ägypten gegangen | |
| bin. Jetzt wird mir der Text wohl um die Ohren gehauen, weil ich gerade | |
| alle Klischees bestätigt habe, die in Deutschland über die arabische Welt | |
| existieren. Der Tenor: „Seht ihr, war doch klar, dass alle Araber, pardon, | |
| Nordafrikaner so drauf sind.“ | |
| Deswegen hier die große Überraschung: In wenigen Ländern dieser Welt – und | |
| sexuelle Belästigung von Frauen gibt es überall, ich betone: überall! – | |
| wird so massiv dagegen vorgegangen wie in Ägypten. Die Männerwelt spaltet | |
| sich in Grapscher und Ritter. Beide sind in ihrer Ausprägung extrem, die | |
| einen haben Spaß daran, Frauen zu demütigen, die anderen organisieren | |
| Selbstverteidigungskurse, Notfall-Hotlines für Betroffene, ja manchmal | |
| bilden sich sogar Gruppen von Bodyguards. | |
| Bei einer Wahlkampfveranstaltung hatten es sich Dutzende von Männern zur | |
| Aufgabe gemacht, mich, die westliche Journalistin, vor den Dutzenden | |
| Männern der anderen Seite zu schützen. Sie bildeten einen Kreis, sodass | |
| zwischen mir und der grapschenden Menge komfortable zwei Meter Abstand | |
| lagen. Ich hatte niemanden darum gebeten. So funktioniert die Gesellschaft | |
| einfach. | |
| ## Hinterwäldler im Hotel | |
| Sicher ist Ägypten ein sehr extremes Beispiel. Doch auch aus anderen | |
| Ländern ist mir das Phänomen „Frau spricht mit Mann = will Sex“ sehr | |
| geläufig. Ich habe vor meinem Kairo-Abenteuer einige Zeit in Russland | |
| gelebt und gearbeitet, war dort viel allein auf Reisen. Obwohl der | |
| Landessprache mächtig, brauchte ich eine ganze Weile, um die sozialen Codes | |
| zu checken. Als westlich sozialisierte Frau bin ich es durchaus gewohnt, | |
| mit mir unbekannten Männern zu kommunizieren, frei von jeder Absicht. | |
| Wurde ich in Russland angesprochen und habe, höflich, wie ich bin, | |
| geantwortet, war das für mein männliches Gegenüber meist das Startsignal | |
| für „Die will mit mir ins Bett“. Gedacht, getan – hatte ich dann den ein… | |
| oder anderen von billigem Wodka berauschten sibirischen Hinterwäldler in | |
| meinem Hotelzimmer stehen. Wie damit umgehen? Schreien, einfach nur | |
| schreien. Das hat meist geholfen, so meine Erfahrung. | |
| Was ist nun also die Schlussfolgerung aus diesen Erlebnissen? Grapschen hat | |
| nichts mit Herkunft zu tun. Grapschen ist männlich. Oh oh, jetzt habe ich | |
| es mir auch noch mit dieser Lesergruppe verscherzt. Ich sag doch, ich hätte | |
| den Text nicht schreiben sollen! | |
| 18 Jan 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Elisabeth Lehmann | |
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