# taz.de -- Warten vor dem Berliner Lageso: Das Windhundprinzip | |
> Nummern, Termine und jetzt Armbändchen: Das Lageso in Berlin hat viel | |
> probiert. Trotzdem warten täglich hunderte Flüchtlinge. | |
Bild: Immerhin gibt es Regencapes: Geflüchtete vor dem Lageso in Berlin. | |
Die blauen Armbänder sind die neueste Idee, es gibt sie seit dieser Woche. | |
Wer eins hat, der soll am nächsten Tag auf jeden Fall drankommen. Denn | |
jeden Tag kommen Hunderte Flüchtlinge zum Berliner Landesamt für Gesundheit | |
und Soziales – kurz Lageso –, weil sie ihre Unterkunft verlängern müssen, | |
weil sie einen Krankenschein brauchen oder weil sie ihre Geldleistungen | |
abholen wollen. Wer nicht drankommt, steht ohne Wohnung, ohne | |
Krankenversorgung, ohne Geld da. | |
Noch bis letzte Woche saßen viele männliche Flüchtlinge schon ab | |
Mitternacht in einer Reihe vor dem Eingang, da nur Menschen im vorderen | |
Teil der Warteschlange bis zu einem Sachbearbeiter durchkamen. Frauen und | |
Kinder durften zuletzt in zwei beheizten Zelten warten, die vorher nur | |
tagsüber geöffnet waren. Um vier Uhr wurde das Gelände geöffnet – wer | |
konnte, rannte dann zu den Gebäuden, um auch dort einen guten Platz in der | |
Schlange zu ergattern. Oft verletzten sich Menschen dabei oder wurden | |
überrannt. | |
Seit Kurzem ist das Gelände auch nachts für alle zugänglich. Es gibt also | |
keinen nächtlichen Ansturm mehr, doch schon jetzt warten auch Flüchtlinge | |
mit den neuen Armbändchen. | |
Private Sponsoren, darunter Herbert Grönemeyer, stellen jede Nacht drei | |
Busse vor dem Eingang bereit, in denen sich Flüchtlinge aufwärmen können. | |
Ehrenamtliche bringen Tee und Essen. | |
## Stichwort: Verschieben | |
Die Behörde schafft bisher 150 bis 180 Termine am Tag. Trotzdem wurden oft | |
500 Termine vergeben. Alle anderen erhalten einen Zettel, der ihnen | |
bescheinigt, dass ihr Fall nicht bearbeitet wurde, und einen neuen Termin | |
nennt. Manche Flüchtlinge haben bereits einen kleinen Stapel mit | |
verschobenen Terminen gesammelt. | |
Mit den Armbändern will die Behörde erreichen, dass sich nicht mehr schon | |
in der Nacht lange Warteschlangen bilden. Nicht die, die zuerst da sind, | |
sondern die, die am längsten auf ihren Termin warten, sollen zuerst | |
bearbeitet werden. Ein Behördenmitarbeiter verteilt nun vormittags blaue | |
Bändchen an Flüchtlinge, deren Termin mehr als einen Monat zurückliegt oder | |
mehrmals verschoben wurde. „Es soll nicht mehr nach dem Windhundprinzip | |
gehen, nicht mehr danach, wer als Erstes kommt“, erklärte eine Sprecherin. | |
Vor der Landesbehörde in Berlin warten seit fünf Monaten täglich mehrere | |
hundert Geflüchtete, aufgeteilt auf verschiedene Warteschlangen oder frei | |
auf dem Gelände. Das Lageso war lange die einzige Stelle, an der sich in | |
Berlin ankommende Flüchtlinge registrieren lassen konnten und eine | |
Unterkunft zugewiesen bekamen. Schutz vor Hitze, Kälte, Regen, Feuchtigkeit | |
und Schlamm gab es nicht, anfangs auch keine Essensversorgung. | |
## Tage oder Wochen | |
Im Spätsommer warteten die meisten Flüchtlinge dort noch auf ihre | |
Erstregistrierung. Dafür vergab das Lageso Wartenummern. Um diese | |
handschriftlich auf einen kleinen grünen Abreißzettel geschriebene Nummer | |
zu bekommen, mussten sich die Flüchtlinge in einer Warteschlange zwischen | |
Absperrgittern anstellen. | |
Die Behörde ging im September dazu über, nur noch bis 14 Uhr Wartenummern | |
auszugeben, so wollte sie die Anzahl der Fälle steuern und begrenzen. Doch | |
die Flüchtlinge blieben meist weiter bis zum Abend in der Warteschlange | |
stehen. Vom Lageso erklärte ihnen niemand, dass es keine Nummern mehr geben | |
würde. Als Sicherheitsmitarbeiter oder Sprachmittler versuchten, das | |
Verfahren zu erklären, glaubten ihnen die wartenden Menschen oft nicht. | |
Wer eine Nummer hatte, musste mehrere Schritte durchlaufen, um als | |
Asylsuchender registriert zu werden. Anstehen fürs Passfoto, Angaben zur | |
Person, Gesundheitsuntersuchung, Platz in einer Notunterkunft. Das dauerte | |
mehrere Tage, manchmal Wochen. Wenn alle Unterlagen zusammen vorlagen, | |
riefen Lageso-Mitarbeiter die entsprechende Nummer auf, um den Antrag | |
abzuschließen. | |
## J255, W358, N958 | |
Am Anfang stellte sich dazu ein Mitarbeiter des Lageso an das Gebäude, vor | |
dem die Menschen warteten, und rief die Nummer laut auf. Später erschien | |
die Nummer auf einem Display. Im November installierten Ehrenamtliche eine | |
Videokamera, die die Anzeigentafel filmte und das Bild mit einem Beamer in | |
einen Hörsaal im Gebäude übertrug, sodass die Menschen nicht mehr draußen | |
warten mussten. Die Nummern liefen auf der Anzeigentafel ohne erkennbare | |
Reihenfolge durch. J255 folgte auf W358, N958 folgte auf BD06. Viele | |
dachten daher, dass sie ihre Nummer schon verpasst hatten oder ihr | |
Buchstabe bald kommen müsse. | |
Doch selbst jene, die alle Unterlagen für ihre Anträge beisammen hatten, | |
warteten teils vergeblich auf ihre Nummer. Denn um nicht dauernd Nummern | |
von Menschen aufzurufen, die gar nicht auf dem Lageso-Gelände waren, | |
notierte sich morgens ein Mitarbeiter die Nummern derer, die warteten. Doch | |
darüber wurden viele der Wartenden nicht informiert. Wenn sich niemand | |
meldete, verschwand die Nummer nach einiger Zeit wieder. | |
Seit dem Herbst werden ankommende Flüchtlinge in der neu eingerichteten | |
Zweigstelle in der Bundesallee registriert, vor dem Lageso warten nun die | |
Flüchtlinge mit Termin, zum Teil stehen Zelte auf dem Gelände. Es gibt | |
Warteschlangen nur für Frauen und Kinder, für neu ankommende Flüchtlinge, | |
für Flüchtlinge mit Termin, für Härtefälle. | |
Doch noch immer ist meist nicht sofort zu erkennen, wofür man sich in | |
welcher Reihe vor dem Lageso überhaupt anstellt. | |
20 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Uta Schleiermacher | |
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