# taz.de -- Debatte Flüchtlinge: Die Schwester der Ökobewegung | |
> Es gibt wieder Lager in Deutschland – und Entsetzen darüber. Wie die neu | |
> Ankommenden neoliberale Gewissheiten untergraben. | |
Bild: Alltag vor dem LAGeSo in Berlin. | |
Seit September kennt die mediale Öffentlichkeit nur noch ein Thema: die neu | |
Ankommenden. Es wird und wird nicht abgelöst. Es bleibt einfach da. | |
Dabei passieren wegweisende Dinge in der Welt – wie der [1][Klimagipfel in | |
Paris], [2][Regionalwahlen in Frankreich], auch [3][der SPD-Parteitag] ist | |
ja nicht ganz unwichtig. Darüber wird auch berichtet, doch kaum oder nur | |
lustlos debattiert. Die Kriege allerorten schaffen es ohnehin nicht auf die | |
westliche Tagesordnung, [4][obwohl nun auch deutsche Truppen dafür sorgen], | |
Syrien weiter zu zerbomben. | |
Selbst [5][der US-Wahlkampf] zählt nicht wirklich. Hey, Deutschland | |
interessiert sich nicht mehr für die USA, den großen Großbruder? Das ist | |
Zäsur. Das ist wirklich 21. Jahrhundert. Eine Ordnung verändert sich. | |
So lautet die alles beherrschende Frage: Was machen wir Eingesessenen jetzt | |
bloß mit all den Menschen, die das Mittelmeer überwinden und danach | |
mithilfe von [6][maps.me] hierhergelaufen sind, obwohl niemand der hiesigen | |
Entscheider_innen eine solche Bewegung auf dem Zettel hatte? Und ihnen ja | |
auch gnadenlos die ganze Bandbreite der offiziellen und inoffiziellen | |
Sicherheitsdienste auf den Hals hetzt. Die Überraschung ist uferlos. | |
## Syrien ist ganz nah | |
Mit der exklusiven Trockenheit der Privilegierten stellt Angela Merkel im | |
Interview mit der „Tagesschau“ fest: „Wir erleben zum ersten Mal die | |
negativen Folgen der Globalisierung.“ Sie setzt sich ja neuerlich häufiger | |
Journalistinnen gegenüber, um die Deutschen mit unbequemen Wahrheiten zu | |
konfrontieren. Im letzten Interview mit Anne Will konstatierte sie ähnlich | |
bahnbrechend, dass Syrien gar nicht so weit weg sei, wie sie bislang | |
gedacht habe. | |
Die Hoffnung, dieses Land irgendwo im Nirgendwo ausbluten zu lassen, war | |
damit amtlich geplatzt. Natürlich hat Merkel Verständnis für den | |
überrumpelten Vizeexportweltmeister. Der muss jetzt nicht nur in Sachen | |
Geografie nachlernen, sondern vor allem sein eigenes Land kennenlernen. Das | |
ist nicht schön, aber die Chance. Das satte, desinteressierte Deutschland | |
kann sich jetzt erneuern! | |
Bisher bringt schon die Schwundidee von Humanität – ein bisschen Unterkunft | |
– die hiesigen Innenverwaltungen zum Kollabieren. Die nämlich haben seit | |
Jahrzehnten ihre EDV nicht erneuert. Versäumt wurde ebenfalls, die Behörden | |
untereinander kommunikationsfähig zu machen. Deswegen müssen die hier neu | |
ankommenden Menschen tagelang – in Berlin wochenlang – in der Kälte und im | |
Regen Schlange stehen. Deswegen warten von privaten Sicherheitsdiensten in | |
Schach gehaltene und zusammengepferchte Menschen jahrelang auf die | |
Bescheidung ihres Asylantrags. | |
Nicht die Zahl der Ankommenden ist das Problem, gleichwohl der | |
Innenminister das behauptet. Es sind die marode Infrastruktur und | |
Denkhaltung einer Gesellschaft, die nicht mehr auf die Idee kommen wollte, | |
von der Welt jenseits von Urlauben und Geschäftsreisen behelligt zu werden. | |
## Bewegung mit Strahlkraft | |
Ähnlich wie Mitte der 1980er Jahre, als das Atomkraftwerk in Tschernobyl | |
explodierte, ist jetzt das Undenkbare denkbar. Damals erkannte man: Wir | |
brauchen alternative Energien. Es war der Beginn der Ökobewegung. Und die | |
hat nun eine Schwester bekommen. Sie hat noch keinen Namen, aber | |
Strahlkraft. | |
Dank des Entsetzens darüber, dass es wieder Lager in Deutschland gibt, | |
entsteht eine Lebenspraxis, die neoliberale Glaubenssätze verabschiedet und | |
Solidarität hochhält. Es ist eine Graswurzelbewegung, getragen vor allem | |
von helfenden Frauen. Sie bringen das Nötigste in die Unterkünfte und | |
scheuen sich nicht, Orte aufzusuchen, die in ihrer Erbärmlichkeit ins | |
Fleisch schneiden. Wer einmal in der Massenunterkunft im Tempelhofer | |
Flughafen war oder das von der Berliner Stadtverwaltung herbeigeführte | |
Leiden vor dem Landesgesundheitsamt gesehen hat, schläft nicht mehr gut. | |
Der geht dort wieder hin, um etwas gutzumachen. | |
Aber auch Teile der Industrie fordern nun eine funktionierende Verwaltung, | |
also vor allem Jobcenter, die ihnen Leute vermitteln – und das Ende des | |
Arbeitsverbots für die Vertriebenen. | |
Bundesweit wird wieder über sozialen Wohnungsbau diskutiert. Am Berliner | |
Alexanderplatz soll ein Zentrum für Kreative und Vertriebene, mithin eine | |
„gentrifizierungsfeste Insel“ entstehen. Rund tausend Wohnungen und | |
zahlreiche Ateliers könnten entstehen. Die alternative Szene hat Berlin | |
Weltruhm verschafft. Daran, so Bezirksbürgermeister Christian Hanke (SPD), | |
müssen wir anknüpfen. | |
Natürlich sind die Gegner groß. In diesem Fall müsste die | |
Senatsfinanzverwaltung auf ein Filetstück inmitten der Stadt verzichten. | |
Aber noch vor einem Jahr wäre es undenkbar gewesen, für ein solches Projekt | |
auch nur ernsthaft zu streiten. Jetzt hat sich ein kleines | |
Möglichkeitsfenster geöffnet. | |
## Geforderte Institutionen | |
Im nächsten Jahr werden noch mehr Institutionen positiv auf die unerwartete | |
Migration reagieren. Die Planungen für 2016 sind jetzt abgeschlossen, die | |
Gelder eingestellt, und so gut wie jedes Haus wird mit Projekten für | |
Zwangsmigrierte aufwarten. | |
Das Thema wird die Gesellschaft also weiter prägen, selbst wenn die Medien | |
der Geflohenen müde werden; andere Akteure sind endlich in den | |
Startlöchern. Gleichzeitig hat die konservative Politik grausame Fakten | |
geschaffen. Und so wird eine reanimierte Zivilgesellschaft auf ein weiter | |
geschliffenes Asylrecht treffen, auf eine effiziente Abschiebepraxis in | |
vermeintlich sichere Herkunftsländer – Stichwort Afghanistan –, und noch | |
Tausende Menschen werden im Mittelmeer und an den europäischen und | |
deutschen Außengrenzen sterben. | |
Es wird also die Aufgabe der Entneoliberalisierten sein, nicht nur die | |
Verwaltung zum lösungsorientierten Arbeiten zu bewegen, sondern es gilt | |
auch, eiligst verabschiedete Gesetze zurückzuholen und schließlich Polizei | |
und Justiz dazu zu bringen, die weiter eskalierenden Straftaten gegen neu | |
Ankommende auch zu verfolgen. Bislang wurde bei den bis November gezählten | |
1.600 Angriffen auf Asylunterkünfte nur in zwölf Fällen Anklage erhoben. Es | |
bleibt also spannend. | |
18 Dec 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://Der%20Hammer%20von%20Le%20Bourget | |
[2] http://Gespielte%20Erleichterung%20in%20Paris | |
[3] /Kommentar-zum-SPD-Parteitag/!5257119/ | |
[4] /Bundeswehr-im-Syrien-Einsatz/!5261978/ | |
[5] /Fernsehdebatte-der-US-Republikaner/!5261979/ | |
[6] http://maps.me | |
## AUTOREN | |
Ines Kappert | |
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