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# taz.de -- Kolumne Mittelalter: Deutsche Kellergeister
> Alle reden von Obergrenzen für Flüchtlinge. Aber tief unten in den
> deutschen Kellern – da ist auch ganz schön was los.
Bild: Uralte Ängste, von der Gegenwart befeuert.
Die Deutschen, sagt diese Woche eine [1][Umfrage], haben Angst. Ich habe
einen Keller.
Kürzlich ging ich mal wieder runter. Es ist ein großer, heller, trockener
Keller, ohne Ratten und Spinnen. Eine Ausnahme in Berlin, die Stadt ist
bekanntlich auf Sumpf gebaut (das historische Gedächtnis daran hat am
innigsten die Berliner SPD bewahrt – aber ich will nicht in
Lokaljournalismus verfallen).
In Kartons im Keller liegen die meisten meiner Bücher. Der Umzug ist schon
eine Weile her. Ungefähr ein Drittel habe ich die Reise von Neukölln nach
Kreuzberg gar nicht antreten, sondern sie von einem Altbücherabholdienst in
die Gemeinnützigkeit überführen lassen.
Schon eine Weile hatte ich nämlich das Gefühl gehabt, dass mich diese
Bücher lange genug begleitet hatten; dass sie verschärft gesagt nur noch
von rein sentimentalen Wert in einer Welt sein würden, die für
Sentimentalitäten keine Muße mehr hat.
## Schnaps und Zigaretten
Aber nun stelle ich fest, dass ich auch nach den Büchern im Keller wenig
Sehnsucht verspüre. Sie in mein neues Wohnzimmer zu schleppen und das
entsprechende Regalmodul auszuwählen und aufzubauen . . .? Da regt sich
nichts.
Ich war auch nicht wegen der Bücher in den Keller gekommen, sondern wegen
der Weihnachtssachen. Aber als ich nach Baumständer und Krippe suchte,
überkam mich auf einmal der Gedanke, dass man in diesem schönen trockenen
Keller doch wunderbar eine Kiste Wasser, einen Karton mit haltbaren
Lebensmitteln sowie eine Kiste mit zukünftigen Tauschwaren wie Schnaps,
Zigaretten, Tee und Kaffee einlagern könnte.
Später in der Wohnung am Rechner schlug mir Facebook die Seite
[2][Vorbereiter.com] vor. Ich musste nur einen kurzen Blick auf sie werfen,
um zu verstehen, dass diese Seite für Menschen gemacht ist, die in ihren
trockenen Keller gehen, um die Weihnachtssachen zu holen und denen dann
plötzlich einfällt, dass ihr Keller sich doch eigentlich sehr gut für die
Einlagerung von einem Sechserpack Wasser, einem Karton mit haltbaren
Lebensmitteln sowie einer Kiste mit zukünftigen Tauschwaren wie Zigaretten,
Schnaps, Tee und Kaffee eignen würde.
Ich erzählte das meiner Freundin. Meine Freundin zog die Augenbraue hoch.
Ich weiß, sagte ich.
Ich weiß nicht, wie ich auf solche Spinnereien komme. Ich bin so gesettled
wie seit meiner Kindheit nicht mehr. Und ich habe einen trockenen Keller,
verdammt! Wovor habe ich Angst? Und wovor haben die Deutschen Angst? Und
für wen? Für ihre Kinder? Warum ist dann ausgerechnet der failed freestate
Sachsen das Land mit der höchsten Geburtenziffer in Deutschland, wie
brandaktuell das [3][Statistische Bundesamt] meldet? Sind es die
Flüchtlinge? Ich habe keine Angst vor Flüchtlingen, ich arbeite ja nicht
beim Deutschlandfunk. Ist es das syrische Inferno? Das syrische Inferno ist
in Syrien – dort leben die Menschen in ihren Kellern.
Wahrscheinlich bin ich in meinem Keller einfach an meine persönliche
Untergrenze gestoßen. Als Gegenwartssüchtiger und als Medienkonsument. Ich
habe jetzt angefangen, die alten Bücher hochzutragen.
18 Dec 2015
## LINKS
[1] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/umfrage-die-mehrheit-der-deutsche…
[2] http://vorbereiter.com/
[3] https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2015/12/…
## AUTOREN
Ambros Waibel
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