| # taz.de -- Debatte Hilfe für Geflüchtete: Die dritte Unterhose nach Kabul | |
| > Flüchtlinge bleiben auf Bahnhöfen und Straßen unversorgt zurück, weil die | |
| > Behörden versagen. Die Not Geflüchteter nimmt uns in die Pflicht. | |
| Bild: Flüchtlinge warten in einer ehemaligen Einrichtung der US-Armee in Heide… | |
| Uelzen ist nichts Besonderes. Bloß eine niedersächsische Kleinstadt mit | |
| einem von Friedensreich Hundertwasser entworfenen Bahnhof, auf den die | |
| Stadt stolz ist, so wie jede Kleinstadt auf ihre Sehenswürdigkeit stolz | |
| ist. Und in Bahnhofsnähe liegt auch das Depot vieler Züge, die Uelzen nach | |
| Mitternacht erreichen und sich erst ab 4 oder 5 wieder in Bewegung setzen. | |
| In der Zwischenzeit sind Bahnhofsgebäude und Toiletten geschlossen, und ein | |
| harscher Wind zieht um jede Mauerecke, in der der Wartende Schutz sucht. | |
| Und das trifft seit Monaten: Geflüchtete. Mal drei, mal dreißig Menschen | |
| pro Nacht. Verzweifelte Zugbegleiterinnen sprachen von bis zu 50 | |
| Geflüchteten, die sie nächtens auf den unwirtlichen Bahnsteig entlassen | |
| mussten. Sie streiften hilflos um das Gebäude, legten sich in die Gänge der | |
| Unterführung. Säuglinge schliefen auf nacktem Stein. | |
| Durch Zufall haben ein Mensch, den ich bis dato überhaupt nicht kannte, und | |
| ich vor einem Monat über Facebook davon erfahren. Wir warfen Decken und | |
| Isomatten in unsere Autos und fuhren hin. Seit dem 20. November sind wir | |
| auf eine wild zusammengewürfelte Gruppe von Menschen angewachsen, die | |
| einander meist nur über WhatsApp kennen und jede Nacht eine Notversorgung | |
| für die Geflüchteten organisieren. Inzwischen haben wir Räumlichkeiten mit | |
| Toiletten, Kochplatte und (veganer) Suppe. Kleiderstapel für Männer, | |
| Frauen, Kinder jeder Größe. | |
| Es geht uns wie Menschen überall in Deutschland, die plötzlich von der | |
| Notsituation anderer in die Pflicht genommen wurden. Vorm Lageso frieren | |
| Menschen? Man räumt die Couch frei. Geflüchtete haben keine Binden und | |
| Zahnpasta? Man schafft welche hin. | |
| ## Verantwortliche abgetaucht | |
| Es ist dieses Jahr schon so viel Treffendes geschrieben worden darüber, | |
| dass die Behörden ihrer Verantwortung nicht nachkommen und wie sich unsere | |
| großen Hilfsorganisationen vielerorts überraschend verdünnisierten. Dazu | |
| noch einige typische Zitate, wie wir sie seit dem 20. November des Jahres | |
| unfreiwillig sammeln: „Das sind ganz normale Reisende. Unverantwortlich, | |
| dass die Eltern mit ihren Kindern so spät noch reisen.“ (Sagt ein | |
| Bundespolizist.) „Das wäre ja Sozialarbeit?! So was können wir nicht | |
| machen.“ (So eine Vertreterin des Diakonischen Werks.) „Das ruckelt sich | |
| zurecht“. (Meint eine Mitarbeiterin der Stadt.) Inzwischen hat ein Geschäft | |
| (nicht die Stadt) eine gewöhnliche Haushaltswaschmaschine und einen | |
| Trockner zur Verfügung gestellt – für bis zu 40 Garnituren Bettwäsche pro | |
| Nacht. | |
| Die Auskunft des Landkreises erklärt so ausführlich das Nichtzuständigsein, | |
| dass mit dem Zitieren mein Kolumnenplatz aufgebraucht wäre. In | |
| Notsituationen wie kalten Nächten jedenfalls gelte: „Sollte die Stadt aus | |
| welchen Gründen auch immer nicht rechtzeitig tätig werden können, besteht | |
| daneben eine Zuständigkeit der Polizei.“ | |
| Wie praktisch! Es gibt nämlich eine Dependance der Bundespolizei im Bahnhof | |
| Uelzen und Überwachungskameras in Fülle. Unmöglich, etwas nicht | |
| mitzubekommen. Dazu eine Bahnhofsmission, deren hilfsbereite Mitarbeiter | |
| der Bundespolizei schon vor vielen Wochen sagten: Wenn nachts Geflüchtete | |
| ankämen, solle man sie anrufen, sie würden kommen. Die Bundespolizei bat um | |
| Hilfe: exakt null Mal. | |
| Ein Vertreter des Roten Kreuzes, der in Uelzen anscheinend für die | |
| Flüchtlinge „zuständig“ ist, sagte einer unserer Helferinnen laut ihrem | |
| Gesprächsprotokoll: „Wer Geld für ein Ticket hat, kann sich auch ein Hotel | |
| leisten.“ Und: „Die müssen lernen, sich an unsere Regeln zu halten.“ Die | |
| Helferin wandte ein, dass Kinder erfrieren könnten. Der Vertreter des DRK: | |
| „Da können Sie sich in Passau jeden Tag 20 neue holen.“ Über eben diesen | |
| DRK-Vertreter stand kürzlich in der Uelzener AZ, er habe an seiner Kneipe | |
| das Schild „Einlass nur mit deutschem Personalausweis“ hängen gehabt. Laut | |
| eigenem Bekunden, um die Volljährigkeit der Gäste seiner Raucherkneipe | |
| überprüfen zu können. Wie gesagt: Das Passau-Zitat entnehme ich den | |
| Gesprächsnotizen einer Helferin. | |
| Seit dem 20. November beherbergten wir 250 Gäste und begegneten Erschöpfung | |
| in 250 Formen. Wir sahen Kinder im Stehen einschlafen und Erwachsene, die | |
| sich unter Decken vergruben. Wir lernten den Vertrauensbeweis | |
| wertzuschätzen, über fremde Schlafende wachen zu dürfen. Wir ernteten | |
| Dankesworte, -umarmungen und -küsse. Wir sahen herzschmelzendes Lächeln in | |
| schüchternen jungen Gesichtern. Wir ließen Botschaften auf Farsi vom | |
| Smartphone ansagen und machten Witze mit Händen und Füßen. | |
| ## Mut machen | |
| Übrigens haben wir auch eine uralte Dusche, nur schaffte es nicht mal der | |
| Hausmeister, sie zum Laufen zu bringen ... Eines Nachts quoll uns heißer | |
| Nebel aus dem Raum entgegen: Drei afghanische Männer hatten nicht gewusst, | |
| dass die Dusche offiziell nicht funktioniert, und endlich mal wieder | |
| ausgiebig geduscht. Einem anderen durften wir „die dritte Unterhose seit | |
| Kabul“ schenken, wie er sagte. Oft liegt am Morgen ein Paar Socken weniger | |
| auf den Tischen, von denen sich jede und jeder nehmen kann, ohne zu bitten. | |
| Dann müssen wir fast weinen: jemandem etwas geben zu können, was er | |
| braucht. | |
| Doch Uelzen ist nichts Besonderes. Inzwischen haben wir erfahren, dass | |
| Flüchtende an vielen Orten und aus diversen Gründen stranden. An | |
| Busbahnhöfen (ZOB) und Bahnhöfen, zum Beispiel in Göttingen, gelegentlich | |
| in Lauenburg und anscheinend auch in Minden (kein Anspruch auf | |
| Vollständigkeit). Am Bahnhof Celle wurden wiederholt früh morgens | |
| unversorgte Geflüchtete gesehen. Einmal sammelten wir bei Boizenburg eine | |
| vom (Schlepper?) Bus abgesetzte durchnässte syrische Familie auf, die neben | |
| einer Bundesstraße kilometerweit durch den Regen wanderte. | |
| Bitte, wer irgend Zeit hat: Geht nachschauen, klappert solche Knotenpunkte | |
| ab, sorgt für Hilfe. Besonders, wenn es wieder kalt wird. Ein paar Stunden | |
| Schlaf, eine Decke: Wir können anderen Menschen ein klein wenig Mut, | |
| Sicherheit, Wärme, Würde geben auf ihrem vielen tausend Kilometer langen | |
| gefahrvollen Weg. | |
| 23 Dec 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Hilal Sezgin | |
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