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# taz.de -- Flüchtlingshilfe in Kanada: Wir adoptieren eine Großfamilie
> Bürger und Initiativen in Kanada können dank privatem Sponsoring
> syrischen Flüchtlingen den Eintritt in ein neues Leben ermöglichen.
Bild: Ankunft der Familie Al Abdallah am Flughafen.
Der 7. Dezember war der Tag, auf den wir seit Monaten gewartet hatten:
Frühmorgens landeten sieben Mitglieder der syrischen Al-Abdallah-Familie
mit einer Air-Egypt-Maschine aus Beirut am Flughafen von Toronto,
überschwänglich begrüßt von Mitgliedern unserer Sponsoren-Gruppe, und Anas,
dem 31-jährigen Sohn der Familie, der bereits zwei Wochen vorher in Kanada
gelandet war.
Es war der Start eines neuen Lebens der Dreigenerationenfamilie, die vor
mehr als zwei Jahren in den Libanon geflohen war, nachdem ihr Haus in der
Nähe von Damaskus bei einem Luftangriff zerstört wurde. Für uns hatte alles
schon im Mai begonnen. Mein Mann und ich hatten seit Langem mit Bestürzung
die syrische Flüchtlingskrise verfolgt und waren empört, dass die Regierung
des damaligen Premierministers Stephen Harper nur eine Handvoll Syrer ins
Land ließ.
Im Gegensatz zu Europa, wo das Problem direkt vor der Haustür liegt, war im
geografisch isolierten Kanada die Flüchtlingskrise bis zum Herbst kaum im
öffentlichen Bewusstsein.
Wir beschlossen, selbst aktiv zu werden und zumindest eine Familie nach
Kanada zu bringen. Als einziges Land der Welt gibt es nämlich in Kanada die
Möglichkeit, Flüchtlinge privat zu sponsern. Das Programm besteht seit
1979, als Kanada innerhalb von 18 Monaten mehr als 60.000 vietnamesische
Boatpeople ins Land brachte, ein Großteil von ihnen finanziert und betreut
von Bürgern und Privatorganisationen.
## 225.000 Flüchtlinge privat gesponsert
Für diese Initiative wurde den Menschen Kanadas 1986 die Nansen-Medaille
verliehen, eine Auszeichnung der Vereinten Nationen für den Dienst an
Flüchtlingen. Seitdem haben Privatleute mehr als 225.000 Flüchtlinge
gesponsert.
Innerhalb kürzester Zeit hatten wir eine Sponsorengruppe von siebzehn
Bekannten und Nachbarn zusammengetrommelt. Wir beschlossen, durch ein
„gemischtes“ Programm zu sponsern, in dem Flüchtlinge bereits vom
Flüchtlingsrat der Vereinten Nationen und der kanadischen Regierung
anerkannt worden und reisebereit sind und die Regierung 40 Prozent der rund
18.000 Euro bezahlt, die als Mindestsumme für den Lebensunterhalt einer
vierköpfigen Familie für ein Jahr festgelegt ist – viel zu wenig allerdings
für eine teure Metropole wie Toronto.
Durch die großzügigen Spenden einer lokalen Ärztevereinigung hatten wir
bald den Großteil des Geldes aufgebracht. Doch wir stießen auf zwei
Probleme: Auf den Flüchtlingslisten der Regierung waren noch immer so gut
wie keine Syrer, und wir hatten Schwierigkeiten, einen sponsorship
agreement holder als Partner zu finden – meist Kirchen oder ethnische
Organisationen, die die offizielle Verbindungsstelle zwischen Privatgruppen
und der kanadischen Immigrationsbehörde sind.
Das Foto des kleinen Alan Kurdi, der Anfang September vor der türkischen
Küste ertrank, änderte alles. Es rüttelte die kanadische Öffentlichkeit auf
wie kein anderer Medienbericht zuvor. Die inadäquate Flüchtlingspolitik der
konservativen Harper-Regierung wurde plötzlich zu einem der größten
Wahlkampfthemen in Kanada und war einer der Gründe, dass der Liberale
Justin Trudeau, der versprach, bis zum Jahresende 25.000 syrische
Flüchtlinge ins Land zu bringen, im Oktober zum neuen Premierminister
gewählt wurde.
## Vietnamesische Boatpeople revanchieren sich
Immer mehr Privatleute und Organisationen haben sich seit dem Herbst
entschlossen, ebenfalls syrische Flüchtlinge zu sponsern, darunter auch
ehemalige vietnamesische Boatpeople, die sich für die großzügige Aufnahme
in Kanada vor mehr als drei Jahrzehnten revanchieren wollen.
Lifeline Syria, eine neu gegründete Organisation, die 1.000 syrische
Flüchtlinge nach Toronto bringen will, fragte uns Mitte September, ob wir
bereit seien, eine achtköpfige Familie zu sponsern – Großelten, drei
erwachsene Söhne (einer von ihnen körperlich schwerbehindert)
Schwiegertocher und zwei Enkelkinder: die Al Abdallahs.
Wir sagten zu und verbrachten die nächsten Wochen mit fieberhaften
Vorbereitungen – Budgets erstellen, mehr Spenden eintrommeln, Möbel und
Haushaltsartikel sowie Rollstuhl und Spezialbett für Oais, den behinderten
22-jährigen Sohn, organisieren. Die größte Herausforderung war es, eine
bezahlbare, behindertengerechte Wohnung für acht Personen zu finden. Über
die kanadische Immigrationsbehörde schickten wir der Familie einen
detaillierten Brief über uns und was sie in Kanada erwarten würde.
## „Wo finde ich Arbeit?“
Aus noch immer unbekannten Gründen kam der 31-jährige Anas zwei Wochen vor
dem Rest der Familie an, und zu unserem großen Erstaunen erfuhren wir, dass
unser Brief nie angekommen war. „Wo kann ich Arbeit finden?“, war eine der
ersten Fragen, die Anas uns noch am Flughafen stellte, voller Angst,
mittellos und ohne Englischkenntnisse in einem neuen Land zu stranden.
Wir konnten fast die Steine von seiner Brust fallen hören, als ein
syrischer Freund, der für uns dolmetschte, ihm das Sponsorenprogramm
erklärte. Die nächste Zeit wohnte er bei uns und bei einer befreundeten
Familie, was uns die Möglichkeit gab, einander besser kennenzulernen. Als
zwei Wochen später der Rest der Al Abdallahs ankam, war es, als würden wir
alte Bekannte treffen – alle Familienmitglieder umarmten und küssten uns.
„Ihr seid jetzt Teil unserer Familie“, sagten sie schon am ersten Tag zu
uns.
Ihr Wohnzimmer haben die Al Abdallahs mit kanadischen Flaggen und dem auf
Arabisch übersetzten „Willkommen in Kanada“-Plakat dekoriert, das wir zum
Flughafen gebracht hatten. Auf einer Kommode im Schlafzimmer breitete
53-jährige Großvater Abdallah gleich alle Schätze aus, die er für uns aus
dem Libanon mitgebracht hatte: Schmuckkästchen, kleine Teppiche und
Dekorationsobjekte.
Es wurde schnell deutlich, dass die Al Abdallahs sehr warmherzige Menschen
sind, die in erster Linie nach vorne schauen. „Unser Leben ist jetzt hier“,
sagte Abdallah, der Großvater, schon kurz nach seiner Ankunft. „Die meisten
unserer Verwandten in Syrien sind entweder geflohen oder tot – es gibt
keinen Weg zurück mehr für uns.“
## Papiere, Geld und Schulen
Nur Sawsan, die 27-jährige Schwiegertochter, deren Familie zum großen Teil
noch in Syrien lebt, hat oft Heimweh und hadert damit, dass sie vermutlich
für lange Zeit Kanada nicht verlassen kann, da niemand von ihnen einen
Reisepass besitzt.
Ein Jahr lang sind wir nun für die Al Abdallahs verantwortlich. Nicht nur
finanziell, wir müssen auch dafür sorgen, dass sie Englisch lernen, alle
erforderlichen Papiere haben, in die kanadische Gesellschaft integriert und
am Ende des Jahres hoffentlich finanziell unabhängig sind. Dabei bekommen
wir auch viel Unterstützung von außen.
Mitglieder der arabischen Gemeinschaft in Toronto haben uns ihre
Übersetzungsdienste angeboten. Eine Zahnärztin behandelt die Familie
umsonst. Behörden, Schulen, Banken und andere Institutionen im
Einwanderungsland Kanada sind zudem auf Neuankömmlinge ohne
Englischkenntnisse eingestellt und organisieren Dolmetscher. Niemand in der
Familie spricht bisher mehr als ein paar Brocken Englisch, aber der
Ehrgeiz, die Sprache zu lernen, ist groß.
Im Januar beginnen alle Erwachsenen mit Englischkursen. Die beiden älteren
Söhne und die Schwiegertochter wollen danach so schnell wie möglich Arbeit
finden. Oais möchte studieren. Die 7-jährige Aya und die 5-jährige Reemas
haben bereits vor den Weihnachtsferien eine Woche lang die lokale Schule
besucht und sind bisher, trotz Sprachschwierigkeiten, hellauf begeistert.
## Ghettoisierung vermeiden
Einige Mitglieder unserer Gruppe, die kleine Kinder haben, organisieren
Spielnachmittage und Ausflüge mit den beiden Al-Abdallah-Mädchen. Ein
anderes Mitglied lud die Frauen zum Nachmittagstee ein. Die Familie war auf
drei Weihnachtsfeiern eingeladen, eine davon in unserem Haus. Rund 60 Leute
kamen, arabisch sprechende Bekannte und viele Menschen, die Geld oder Möbel
für die Familie gespendet hatten.
Obwohl in dem Viertel, in dem die Al Abdallahs wohnen, viele Araber leben,
laufen sie durch den fast täglichen Kontakt zu uns wenig Gefahr
ghettoisiert zu werden. Die Integration von privat gesponserten
Flüchtlingen funktioniert meist reibungsloser als die von der Regierung
nach Kanada gebrachten Neuankömmlingen, erzählte mir die aus dem Irak
stammende Sozialarbeiterin Wanda Giorgis. „Für Flüchtlinge, die niemanden
in Kanada kennen, sind Sponsoren eine Art Ersatzfamilie. Sie erleichtern es
ihnen, sich im System zurechtzufinden.“
Uns jedenfalls haben die Al Abdallahs ziemlich schnell als bunt gemischte
kanadische Ersatz-Großfamilie adoptiert. Und die meisten von uns sind sich
einig, dass unser Leben sich in den letzten Wochen fast genauso verändert
hat wie das ihre.
16 Jan 2016
## AUTOREN
Claudia Blume
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