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# taz.de -- Parlamentswahl in Spanien: Teuer macht glücklich
> Was der Auberginenpreis mit dem Ausgang der spanischen Wahl zu tun hat.
> Unterwegs mit einer Podemos-Anhängerin.
Bild: „So etwas passiert nur einmal im Leben“. Mar Mas ist von Mallorca nac…
MADRID taz | Mar Mas checkt auf ihrem Smartphone ständig die
Auberginenpreise. Lange lagen sie bei 14 bis 17 Euro das Kilo. Jetzt kurz
vor dem 20. Dezember haben sie schon 20 Euro erreicht. Es ist eine
Preissteigerung, die Podemos-Anhänger ausnahmsweise freut.
In den letzten Tagen vor den Parlamentswahlen ist es in Spanien nicht mehr
erlaubt, Wahlumfragen zu veröffentlichen. Eine kleine Zeitung im
Nachbarland Andorra, El Periòdic, aber übersetzt die jüngsten Ergebnisse
ihrer Meinungsforscher in Lebensmittelpreise – und spiegelt damit auch, wie
die junge Protestpartei Podemos (Wir können) in der Gunst der Wähler wieder
steigt.
Geht es nach Mar Mas, darf die Aubergine noch teurer werden.
Auf Mallorca ist es derzeit etwas wärmer, trotzdem hat die 49-Jährige sich
einen Monat freigenommen um für die „Violetten“ in der Innenstadt von
Madrid Wahlkampf zu machen. Die Kapitänin weiß, wie man sich mit Dauenjacke
und Mütze gegen Wind und Kälte schützt. „Ich wollte einfach dabei sein“,
sagt sie. „So etwas passiert nur einmal im Leben.“
## Die alltäglichen Sorgen
Auf der Baleareninsel steuert sie sonst Urlauberschiffe und überführt
Yachten. Jetzt steht sie an einem U-Bahn-Ausgang ihrer Heimatstadt, drückt
Passanten Flugblätter in die Hand, beantwortet Fragen zum Programm und hört
zu, wenn Bürger von alltäglichen Sorgen berichten: Arbeitslosigkeit, den
Kindern, die auf Jobsuche im Ausland sind, oder der jüngsten unbezahlten
Stromrechnung. „Die ganze Auswirkung der Krise, wird deutlich“, erklärt
Mas. Auf den Flyern in ihrer Hand steht „Rettungspaket für die Bürger“.
Mas weiß, was Krise bedeutet. Lange war sie Produzentin bei
unterschiedlichen TV-Sendern und machte sich 2002 selbstständig. Sie drehte
Dokumentarfilme über Umweltschutz, Reisen, Natur – bis 2007, als die
Spekulationsblase in der Bauindustrie platzte, Banken crashten, Spanien
unter den Europäischen Rettungsschirm schlüpfte und mit der Sparpolitik
begann. Weniger Geld – das bedeute auch für Mas weniger Aufträge. Die
Filmemacherin musste ihr Unternehmen schließen und machte ihre Leidenschaft
fürs das Meer zum Beruf. Sie legte das Kapitänspatent ab.
Im Mai, als die pensionierte Richterin Manuela Carmena mit der Bürgerliste
Ahora Madrid (Jetzt Madrid) rund um Podemos die Kommunalwahlen in Madrid
gewann, verfolgte Mas die Entwicklung aus der Ferne. „Dieses Mal hielt mich
nichts. Ich habe ein paar Aufträge abgesagt, ich will einfach dabei sein“,
sagt sie voller Begeisterung.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Frau ihren Job gegen Politik tauscht.
Als 2011 die „Indignados“ in Madrid wie in anderen Städten Protestcamps
errichteten, war sie auch dabei. „Was seither in Spanien geschieht, ist
einzigartig.“ Podemos ist für sie der „organisierte Ausdruck“ der damali…
Empörung.
## Wahlkampf mit Kleinstkrediten
Immer wieder wirft Mas einen schnellen Blick auf ihr Smartphone: „Wir
brauchen einen Fahrer, fünf Leute zum Flugblattverteilen, Plakatieren heute
Abend um 21.30 Uhr ...“, lautet die letzte Kurznachricht der Gruppe
„Mannschaft Kampagne Zentrum“. Vor zwei Wochen hatte sie gerade mal 23
Mitglieder, jetzt sind es über 80. Sie kommen aus den vier Círculos
(Kreisen) in der Innenstadt, den Basisversammlungen von Podemos. Alle sind
Ehrenamtliche. Die fehlende Infrastruktur der Partei wird mit Engagement
wettgemacht.
Anders als die beiden Altparteien, die regierende, konservative Partido
Popular (PP) und die sozialistische PSOE, oder die ebenfalls zum ersten Mal
antretende rechtsliberale Ciudadanos (Bürger) hat Podemos keine
Millionenkredite bei den Banken aufgenommen. Der Wahlkampf wird über
Kleinstkredite der Sympathisanten finanziert.
Zwei Millionen Euro sind so zusammengekommen. Das reicht für Material, für
Säle, aber nicht für große Plakatwände, Schilder an den Straßenlaternen
oder gar für zusätzliche Fernsehwerbung und Anzeigen.
„Ich nutze mein Erspartes, um hier zu sein. Das ist mein Beitrag“, sagt
Mas. Infotisch am Morgen, Flugblätter verteilen am Nachmittag. Sie baut
Bühnen für kleine Meetings auf, oder ist bei Großveranstaltungen wie am
vergangenen Sonntag. Spitzenkandidat Pablo Iglesias, der charismatische
37-jährige Parteigründer, und Ada Colau, die die einstige Aktivistin gegen
Zwangsräumungen und neue Bürgermeisterin Barcelonas, traten vor mehr als
11.000 Menschen auf.
## „Die Straße fragt“
Podemos setzt im Wahlkampf aber nicht nur auf Großveranstaltungen, die
üblichen Infostände oder Präsenz in den sozialen Netzwerken. „Die Straße
fragt“, heißt ein neues Format, mit Wählern in Kontakt zu kommen. So wie am
Samstagfrüh, als auf einem Platz Podemos-Vertreter und Mitglieder der neuen
Madrider Stadtregierung Rede und Antwort standen.
Es kommen Bürger, die nur ihrem Unmut Luft machen wollen oder von ihren
Nöten berichten: „Wählt auf keinen Fall die beiden Altparteien“, ruft
einer. „Wenn ihr an die Regierung kommt, macht was für uns
Langzeitarbeitslose, alle haben uns vergessen“, sagt eine Frau über 50. Ihr
Mann – Maler und Tapezierer – berichtet, er arbeite, um die Familie
versorgen zu können, mittlerweile in der Schweiz.
Meist gehen die Fragen an die Vertreter der Stadtverwaltung. „Warum ist der
Drei-Königs-Umzug kürzer als im vergangenen Jahr?“, will eine Mutter
wissen. „Was für Pläne hat die Stadtverwaltung mit der Casa del Campo?“,
fragt ein älterer Anwohner. Der große Stadtwald hat hier einen seiner
Eingänge. „Warum führen die Verkehrsbetriebe keine Linien innerhalb des
Parks mit Elektrobusen ein?“, regt der Sprecher eines Nachbarschaftsvereins
an.
Es hat sich viel geändert, seit die Konservativen nach mehr als 20 Jahren
das Bürgermeisteramt verloren haben. „Endlich werden die Menschen
eingebunden, können sich beteiligen“, beschreibt Mas, wie sie ihre Stadt
unter der neuen Bürgermeisterin Manuela Carmena vorgefunden hat.
## Prognosen als Lebensmittelpreise
Podemos hat ein Portal für Bürgerbeteiligung im Netz eingerichtet. Erhalten
die Anträge dort genügend Unterstützung, kommen sie auf die Tagesordnung
des Stadtrats. Eine neue Stelle im Rathaus vermittelt, wenn Banken
Zwangsräumungen durchzusetzen versuchen. Wer dennoch seine Wohnung
verliert, bekommt von der Stadt eine Unterkunft gestellt. Die kostenlose
Schulspeisung für bedürftige Kinder wurde auch während der Sommerferien
beibehalten. Und der Sozialhaushalt für 2016 um 24 Prozent aufgestockt.
Dennoch zahlt die Stadt ihre Schulden ab, gigantische 5 Milliarden Euro.
Das meiste davon hat sich dank monströser Bauprojekte zur Zeit des billigen
Geldes aufgetürmt. In Barcelona, Saragossa oder Cádiz, wo ebenfalls
Podemos-nahe Bürgerlisten regieren, wird eine ähnliche Politik betrieben.
Die „Städte des Wandels“ dienen im Wahlkampf als Beispiel, dass Podemos
regieren kann und trotz Krise besser und gerechter.
„Immer mehr Menschen kommen an die Infotische und zu den Veranstaltungen“,
berichtet Mas. „Wir werden am Wahlabend die große Überraschung sein.“ Sie
schaut noch einmal auf die Lebensmittelpreise auf ihrem Smartphone. Die
sozialistische PSOE wird wegen der Parteifarbe von der Erdbeere
symbolisiert, die Ciudadanos von einer Orange, der Wasserpreis steht für
die Werte der regierenden PP.
Die Aubergine kostet mittlerweile knapp 21 Euro. Es fehlen nur 80 Cent, um
vor den Erdbeeren zum zweitteursten Produkt zu werden. Wasser kostet am
meisten und steht bei knapp 26 Euro, die Orangen liegen bei 16 Euro.
20 Dec 2015
## AUTOREN
Reiner Wandler
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