# taz.de -- Architekturprofessor über Barcelona: „Kalt und leer im Neubauvie… | |
> Aus der einstigen sozialdemokratischen Vorzeigestadt Barcelona wurde ein | |
> Luxushostel. Wohnungsdezernent Josep María Montaner will das ändern. | |
Bild: Das de Meurons Forum (Vordergrund) und das Neubauviertel Diagonal Mar (Hi… | |
taz: Herr Montaner, als Architekturprofessor haben Sie die Entwicklung des | |
„Modells Barcelona“ ausführlich untersucht. Was lief denn in den letzten | |
Jahren schief? | |
Josep María Montaner: Das „Modell Barcelona“ ist verblasst, es ist zu einer | |
Marke geworden. Nach dem Wahlsieg des Wahlbündnisses „Barcelona en Comú“ | |
(Barcelona gemeinsam) im Juni dieses Jahres ist jetzt aber die Chance da, | |
ein anderes Barcelona, eine sozialere und gerechtere Stadt zu schaffen. Wir | |
streben ein partizipatives Modell der Stadt an. Dazu stehen uns die Mittel | |
zur Verfügung. Barcelona hat die Fähigkeit, sich neu zu erfinden – | |
ausgehend von den realen Bedürfnissen der Menschen und nicht den | |
Amtsstuben. | |
Sie lehnen ja nicht gänzlich das „Modell Barcelona“ ab. In den achtziger | |
Jahren spielte die Abkehr von der stark zentralistischen Franco-Diktatur | |
eine große Rolle. Ebenso die Idee einer umfassenden Demokratisierung der | |
Stadt. | |
Das stimmt. Die anfängliche Entwicklung war gut. Das „Modell Barcelona“ | |
entstand in den achtziger Jahren, als sich die spanische Gesellschaft mehr | |
und mehr demokratisierte. Damals entstanden vermehrt öffentliche | |
Einrichtungen und Plätze. Pasqual Maragall, der 1982 Bürgermeister von | |
Barcelona wurde, ließ sich von der Idee einer aufgeklärten, demokratischen | |
Stadtgesellschaft leiten, die nicht im Widerspruch steht zu den privaten | |
Kräften des Marktes. Maragall ließ private Investitionen durch öffentliche | |
Instanzen kontrollieren, so gelang ihm ein Ausgleich zwischen privaten | |
Investoren und städtischen Interessen. | |
Auf was kann eine grundlegende Erneuerung des einst weltweit gelobten | |
„Modells Barcelona“ denn aufbauen? | |
Zunächst einmal: Es bleiben viele Errungenschaften übrig. Doch der | |
öffentliche Stadtraum zum Beispiel, der anfangs für alle da war, wurde | |
zusehends privatisiert. Ein negativer Wendepunkt war das Internationale | |
Forum der Kulturen von 2004. Die Veranstaltung war ein Misserfolg, das | |
Neubauviertel Diagonal Mar um Herzog & de Meurons Forum-Gebäude blieb kalt | |
und leer. Barcelona wollte sich damals erneuern, doch der Versuch misslang | |
kläglich. Die neoliberale Stadtpolitik setzte sich verstärkt in der Zeit | |
von Bürgermeister Xavier Trias durch, der zudem dafür verantwortlich ist, | |
dass sich die Wohnungen an der Avinguda Diagonal extrem verteuerten. Die | |
neue Stadtregierung, der ich angehöre, wird vieles rückgängig machen und | |
einen sozial ausgeglichenen Urbanismus einführen. | |
Die sichtbarste Veränderung in Barcelona lässt wohl an den extrem | |
angestiegenen Touristenzahlen ablesen. Wird die Stadt diesen Massen noch | |
Herr? | |
Sie haben recht, die Touristenmassen schnellten sprunghaft nach oben. In | |
den letzten 10 Jahren haben sich die Zahlen vervierfacht, von 2 auf 10 | |
Millionen Besucher. Wenn ich die Kreuzfahrtschiffe hinzuzähle, können bei | |
jedem neuen Schiff 20.000 hinzukommen. Der neue Tourismus ist grenzenlos, | |
konsumorientiert, schnelllebig und oberflächlich. Hält das an, bringt er | |
die Stadt zum Kollaps. | |
Warum? | |
Diese Situation hat auch zu Auswüchsen im Hotelsektor geführt. Viele | |
Stadtviertel leiden unter dem Druck neuer Hotels. Betroffen sind | |
historische Plätze und Straßenzüge, aber auch Fußgängerzonen, die von den | |
Investoren bevorzugt werden. Es besteht die Gefahr, dass diese Stadtteile | |
zugrunde gehen. Deswegen war es richtig, dass die Trias-Regierung ein | |
Hotel-Moratorium einführte, um den Weiterbau von Hotels vor allem in der | |
Altstadt zu stoppen. Doch dieses Moratorium wurde aufgekündigt, was die | |
bereits angespannte Lage weiter verschärfte. | |
Was können Sie jetzt tun? | |
In Anbetracht der schwierigen Wohnsituation diskutieren wir derzeit, einige | |
Hotels zurückzubauen, um sie in Sozialwohnungen zu verwandeln und damit die | |
Wohnungslage zu entspannen. Gleiches beabsichtigen wir mit den | |
Touristenwohnungen, vorausgesetzt, wir können uns mit den Eigentümern | |
einigen. Zusammen mit allen Beteiligten arbeiten wir an neuen | |
Wohnungsmodellen, um den vielen Bedürftigen in unserer Stadt neuen, | |
preiswerteren Wohnraum bieten zu können. | |
Als Wohnungsdezernent leiten Sie auch den „Patronato Municipal de la | |
Vivienda“. Welche Leitlinien für eine neue Wohnungspolitik schweben Ihnen | |
denn vor? | |
Auf dem Wohnungsmarkt Barcelonas haben wir circa 80.000 leer stehende | |
Wohnungen, im Besitz von privaten Eigentümern, Immobilienfirmen oder | |
Bankgesellschaften. Zur gleichen Zeit gibt es unter den Wohnungssuchenden | |
30.000 mit einer Wohnungsberechtigung. Nicht zu vergessen die | |
Touristenwohnungen. Sie verschärfen die Wohnsituation in den Vierteln, weil | |
zahlreiche Einheimische zum Auszug gezwungen sind. Viele Bürgerinitiativen | |
in den barrios erheben sich gegen diese Ungerechtigkeiten. Deswegen sitzen | |
heute nicht die großen internationalen developer am Verhandlungstisch, | |
sondern Vertreter von Bürgerinitiativen. Die Zielsetzungen des „Patronato | |
Municipal de la Vivienda“ sind: architektonische Qualität gewährleisten | |
sowie Sozialwohnungen, die gut erreichbar und gut ausgestattet sind. | |
Um welche Größenordnung geht es da? | |
Uns geht es darum, in einer Stadt, in der es mehr Privatbesitz als im | |
restlichen Spanien gibt, die Anzahl der Sozialwohnungen von 30 auf 50 | |
Prozent zu erhöhen; zu einer Neubewertung von Grund und Boden beizutragen; | |
die Renovierung der Bestandsgebäude voranzubringen; neue Formen des | |
Eigentums zu begünstigen, jenseits von Grunderwerb und Miete, bis hin zu | |
kooperativen Modellen. Persönlich denke ich an kollektive und partizipative | |
Formen, die Autoren wie der französische Psychoanalytiker Félix Guattari | |
entwickelt haben. Einige von meinen Universitätskollegen, die „Barcelona en | |
Comú“ mitbegründeten, gehen in dieselbe Richtung. Beispielsweise Joan | |
Subirats und Gerardo Pisarello, der Stellvertreter von Bürgermeisterin Ada | |
Colau. Wir lassen uns von einer subjektiven, an den Menschen orientierten | |
Stadt leiten, von einer Ökosophie, so wie sie Félix Guattari in dem Buch | |
„Die drei Ökologien“ entwickelt hat. | |
Sie sagen, die neue Stadtregierung unter der Federführung von Ada Colau und | |
„Barcelona en Comú“ wagt einen Neustart. Wie denn? | |
Ich plädiere für eine kritische Fortentwicklung des Modells einer sozialen | |
Stadt. Ildefons Cerdà, der Begründer von Barcelonas moderner | |
Stadterweiterung im 19. Jahrhundert, setzte sich immer für eine soziale und | |
gerechte Stadtplanung ein. Das ist für uns die Leitidee. Es gilt, die | |
Stadtplanung grundlegend zu verändern, Profite zu sozialisieren, mehr | |
Sozialwohnungen und öffentliche Räume zu schaffen – das ist das Fundament | |
des Urbanismus. In den letzten vier Jahren ist dieser Urbanismus zugrunde | |
gegangen. | |
Sie haben kürzlich Ihr Buch „Die kollektive Wohnung“ veröffentlicht. Die | |
soziale Verantwortung steht bei Ihnen an erster Stelle? | |
Vor 20 Jahren hat sich das Feld grundlegend verändert: Die globalen | |
Finanzakteure verhalten sich zusehends rücksichtslos, wenn sie Projekte in | |
den Stadtvierteln durchsetzen wollen. Rücksichtslos gegenüber sozialen, | |
ökologischen und städtischen Verhältnissen. Ende der neunziger Jahre | |
übertrug die Stadtverwaltung der amerikanischen Immobiliengesellschaft | |
Hines die Macht, große Teile des Neubauviertels Diagonal Mar sozusagen nach | |
Gutdünken zu gestalten. Investorenwünsche dominierten. Das war die | |
schlimmste Phase in Barcelonas Stadtplanung. | |
Was passierte? | |
Es herrschte die Haltung vor, der beste Deal bestünde darin, ein | |
städtisches Grundstück meistbietend zu verscherbeln. Unter der letzten | |
Stadtregierung sind zwar einige Sozialwohnungen gebaut worden, ebenso | |
Wohnungen für Menschen, die von Zwangsräumungen betroffen waren. Aber das | |
reicht nicht aus. Letztlich wollen wir erreichen, dass sich die | |
Finanzierungsbedingungen für bestimmte Wohnungsprojekte ändern und der | |
Finanzsektor eine größere Verantwortung gegenüber der Gesellschaft | |
übernimmt. Wir streben ein neues Stadtmodell an, das auf Teilhabe und | |
wirkliche Einflussnahme der Bürger gründet, um eine Wohnungspolitik und | |
eine Stadtplanung durchzusetzen, die ihren Namen verdient. | |
20 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Klaus Englert | |
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