| # taz.de -- Debatte Grünen-Parteitag: Mittelstürmer unter der Ersatzbank | |
| > Verrät Kretschmann grüne Ideale? Seine Gegner machen es sich mit solchen | |
| > Totschlagargumenten zu leicht. Das Problem liegt woanders. | |
| Bild: Mit ihm gibt es keine Blümchenprogramme: Winfried Kretschmann auf dem Gr… | |
| Winfried Kretschmann wiederholt gerne einen Satz, wenn er begründet, warum | |
| er den Asylkompromiss unterschrieben hat. „Konsens ist ein Wert an sich.“ | |
| Das heißt übersetzt: Die Grünen durften nicht anders handeln. Sie mussten | |
| Angela Merkels Asylrechtsverschärfung zustimmen. Denn Demokraten stehen in | |
| Krisenzeiten zusammen. Die Grünen, heißt das auch, können sich in Zukunft | |
| nicht drücken | |
| Das Argument des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg ist ernst zu | |
| nehmen. Denn es akzeptiert, dass Programmatik auf Ausnahmesituationen | |
| reagieren muss. Wenn in Europa der Nationalismus grassiert, wenn fast | |
| täglich in irgendeiner Kleinstadt eine Unterkunft brennt und die AfD bei 9 | |
| Prozent steht, wenn immer mehr Deutsche skeptisch werden, dann ist nicht | |
| die Zeit für grüne Blümchenprogramme. Verantwortungsvolle Politik darf die | |
| Menschen nicht verlieren. | |
| Aber zu viel Konsens schadet, und das kommt bei dem philosophisch | |
| gebildeten Ministerpräsidenten leider nicht vor. Eine lebendige Demokratie | |
| lebt von der Differenz. Die Bürger müssen die Wahl haben, sonst macht das | |
| Ganze keinen Spaß. Wer den Konsens über alles stellt, läuft Gefahr, die | |
| eigene Position zu verwischen. | |
| „Konsens ist ein Wert an sich.“ Dieser Satz ist ja auch herrlich bequem. Er | |
| beendet den inhaltlichen Streit, weil er auf die Metaebene zielt. Klar, | |
| Wert an sich, wer wollte da noch nörgeln? Die Grünen kritisieren gerne | |
| Merkels postdemokratisch anmutende Vagheit, zumindest haben sie das früher | |
| mal getan. Aber Kretschmann beweist seit Langem, dass er von dieser | |
| Kanzlerin gelernt hat. | |
| ## Der deutsche Diskurs rückt nach rechts | |
| Ja, die Grünen befinden sich in der Flüchtlingspolitik in der Klemme. Der | |
| gesellschaftliche Diskurs in Deutschland rückt nach rechts, da ist es | |
| schwer, linke Positionen hochzuhalten. Aber ein bisschen Ehrlichkeit, die | |
| könnte man schon verlangen. Der Asylkompromiss war im Kern eine Erpressung | |
| der Großen Koalition. CDU, CSU und SPD haben die grünen Länder mit | |
| Milliarden gelockt, aber dafür widersinnige Asylrechtsverschärfungen | |
| verlangt. | |
| Wer Vernünftiges mit Unfug verknüpft, handelt unredlich. Die Grünen konnten | |
| für diese Verbindung nichts, Zwangslagen schaffen eigene Gesetze. Man kann | |
| Kretschmann und seinen Länderkollegen deshalb schwer vorwerfen, am Ende | |
| zugestimmt zu haben. Kretschmanns Gegner neigen dazu, zu überziehen. Sie | |
| behaupten pauschal, der Ministerpräsident verrate ihre Ideale – und | |
| schießen sich so ins Abseits. | |
| Ein besonders naives Beispiel hat die Grüne Jugend geliefert. Sie wollte | |
| ernsthaft folgenden Satz aus dem Leitantrag des Vorstands streichen: „Dabei | |
| ist klar, dass nicht alle, die in Deutschland Asyl beantragen, auch bleiben | |
| können.“ Umgekehrt formuliert: Alle dürfen rein und bleiben, jederzeit, | |
| egal wer. Da kann man sich gleich ein Einwanderungsgesetz sparen. Oder | |
| Hoheit des Staates über sein eigenes Gebiet abschaffen. So einen Antrag zu | |
| stellen ist albern, aber albern ist es auch, das Nein des Parteitags dazu | |
| als Sieg zu verkaufen. | |
| ## Es war einfach mehr drin | |
| Die wahren Probleme von Kretschmanns Politikstil sind andere. Ein erstes | |
| lautet: Kretschmann hat in der Flüchtlingspolitik nicht hart genug für das | |
| eigene Programm gekämpft. Taktisch versierte Grüne geben hinter | |
| vorgehaltener Hand zu, dass man beim Asylkompromiss mehr hätten herausholen | |
| können. Kretschmann meidet vor der Landtagswahl jede noch so kleine | |
| Eskalation, weil er der CDU keine Angriffsfläche bieten will. Mehr noch, er | |
| besetzt ihre Themen, da, wo es passt. | |
| Wie gesagt, er hat von Merkel gelernt. Die Kanzlerin hat diesen Trick im | |
| Bund mit den Sozialdemokraten perfektioniert. | |
| Nun gilt auch für Grüne eine einfache Regel: Ein schwacher Chef schwächt | |
| den Rest. Wenn sich der Mittelstürmer während des Spiels unter der | |
| Ersatzbank verkriecht, schießt die Mannschaft wenig Tore. Aus Kretschmanns | |
| Sicht ist diese Taktik logisch, aber sie minimiert die grüne | |
| Verhandlungsposition, auch wenn die Länder eine Sperrminorität im Bundesrat | |
| haben. | |
| ## Die Eigen-PR der Grünen wirkt lächerlich | |
| Das zweite Problem ist, dass die Grünen ihre Niederlage bis heute schön | |
| reden. Eine Erpressung mag man vielleicht nicht Erpressung nennen, aber ein | |
| Sieg ist sie auf keinen Fall. Parteistrategen erklären mit treuherzigem | |
| Augenaufschlag, der kümmerliche Arbeitsmarktzugang für Menschen vom | |
| Westbalkan sei ein grandioser Erfolg. Oder sie loben sich für | |
| Investitionen, die eigentlich die SPD verhandelte. Diese Eigen-PR der | |
| Grünen wirkt lächerlich. | |
| Etwas unterkomplex ist auch die beliebte Erzählung, die Grünen in den | |
| Ländern machten pragmatische, an der Realität orientierte Politik, während | |
| die im Bund moralverliebte Träumer seien. Konservative Politik schafft eine | |
| andere Realität als linke Politik – und beide ziehen aus der Realität | |
| andere Schlüsse. Wer für das eine wirbt, sollte das andere nicht | |
| verunglimpfen. Die Grünen haben es geschafft, dieses Prinzip unfallfrei | |
| anzuwenden. Die große Abrechnung mit Kretschmann blieb aus, beide | |
| Sichtweisen akzeptierten sich. | |
| Dabei hat der Parteitag die eigene Zerrissenheit auf grünen-typische Weise | |
| gelöst. Die Delegierten beklatschten Kretschmanns Werben für den eigenen | |
| Kurs freundlich. Sie stimmten gegen die naiv-linken Anträge der Grünen | |
| Jugend. Aber dann beschlossen sie einen Antrag, der Kretschmanns Handeln in | |
| Teilen für falsch erklärte – zum Beispiel bei den sicheren | |
| Herkunftsstaaten. So sieht grüne Dialektik aus. | |
| Alle wissen, dass das, was auf dem Papier steht, sowieso schon bald egal | |
| sein könnte. Die Große Koalition plant weitere Verschärfungen, manches | |
| davon wird im Bundesrat abgestimmt werden. Die Grünen bekommen dann wieder | |
| Macht in der Flüchtlingspolitik, wahrscheinlich mehr Macht, als ihnen lieb | |
| ist. | |
| Will man wetten, ob Kretschmann die Parteitagsbeschlüsse hochhält, wenn er | |
| demnächst wieder mit Merkel verhandelt? Ach nein, lieber nicht. | |
| 21 Nov 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
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