# taz.de -- Kolumne Die eine Frage: Keine Moral durch Raushalten mehr | |
> Wir Deutschen stehen in diesem Herbst vor einer Zäsur. Müssen die Grünen | |
> deswegen Kanzlerin Merkel verteidigen oder angreifen? | |
Bild: Vor der Bundesdelegiertenkonferenz in Halle präsentieren die Vorsitzende… | |
Die Realität ist beschissen. Und der Diskurs erst recht. Es dominiert der | |
linkskonservative als auch rechtskonservative Reflex, den Terror und das | |
Grauen von Paris als Bestätigung für das zu sehen, was man schon immer | |
gesagt hat. Nun ist die eine Frage: Wie positionieren sich die Grünen an | |
diesem Wochenende auf ihrer Bundesdelegiertenversammlung in Halle? Bringen | |
sie etwas Neues in diese beschissene Realität oder bringen sie sich | |
verbalradikal in Sicherheit? | |
Wir Deutsche stehen in diesem Herbst – Hans Ulrich Gumbrecht hat das | |
geschrieben – vor einer Zäsur: Unser aus der unauslöschlichen Schuld | |
entstandenes Streben nach absoluter moralischer Autorität war wichtig für | |
die alles in allem ordentliche zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber im | |
21. Jahrhundert wird es keine Moral durch Raushalten mehr geben. Nicht | |
außenpolitisch und nicht für Parteien oder Menschen, die einen Unterschied | |
machen. | |
Das ist hart für die Grünen, denn sie waren der Motor der | |
ethisch-moralisch-emanzipatorischen Säuberungsprozesse der letzten 40 | |
Jahre. Inklusive ihrer absurden Abgründe, zuvorderst die Fixierung auf den | |
Kampf gegen falsches Sprechen. (Was sie sprechunfähig gemacht hat.) | |
Der normale Mensch weiß manchmal wirklich nicht, was sie schlimmer finden: | |
Dass Kurden massakriert werden oder wenn Özdemir sagt, dass man den IS | |
nicht mit Yogamatten bekämpfen kann. Wenn man die Dynamik der globalen | |
Entwicklungen (Klimawandel, Flüchtlinge, Terror, Armut, Verwerfungen der | |
fossilen Energien) ernst nimmt, dann gibt es nur eine gebrochene Moral des | |
Handelns. | |
Gleichzeitig erleben wir, wie man von der rechten Seite an der Mitte zerrt. | |
Die Mitte ist Angela Merkel mit ihrer derzeit noch sozialliberalen Politik. | |
Was etwa die FAZ-Leitartikler mit ihr veranstalten, um sie zu harter, | |
männlicher, rechter Flüchtlingspolitik zu bringen statt diesem | |
fremdenfreundlichen Weiberzeug, das hat eine neue Qualität. | |
Müssen die Grünen sich bei aller Differenz nicht entschlossen zu Merkel | |
stellen, um die Mehrheit für ein pragmatisch-offenes Land zu verteidigen? | |
Das heißt nicht alles durchwinken, was unionsintern rumschwirrt. Dinge | |
herausholen, so wie Kretschmann, Habeck und Al-Wazir das mit der Grünen | |
Bundesratsmehrheit beim zweiten Flüchtlingskompromiss getan haben. Und die | |
Angst vor dem Wähler, wenn man nicht radikal genug tut? Alles fließt. Die | |
Gefahr ist genauso groß, dann mit ein paar Prozent Hardcore-Moralfundis | |
dazusitzen. | |
Die Grüne Frage ist nicht, was de Maizière alles universalmoralisch falsch | |
macht, sondern was ein Grüner Innenminister heute konkret machen würde, um | |
die Flüchtlingsaufnahme zu managen. Was er macht, wenn es kracht. Was er | |
macht, damit es nicht kracht. Und die Balance von Freiheit und Sicherheit | |
gewahrt bleibt. Das aber führt zu der Erkenntnis, dass Boris Palmer ein | |
besserer Innenminister ist als Franziska („Ska“) Keller. Also lieber nicht | |
darüber reden. | |
Es wird in Halle vermutlich wieder hauptsächlich darum gehen, dass die | |
Grünen eine Sprache finden, die die Hypermoral ihrer Seele so smart mit der | |
Realpolitik der Grünen Länder verknüpft, dass alle damit emotional leben | |
können. | |
Überhaupt: Wer spricht künftig für Grün? Das wird entscheidend sein. Wenn | |
Özdemir spricht, hören die Grünen selbst nur Krieg. Wenn Hofreiter spricht, | |
hören sie nur Frieden. Wenn Peter spricht, hört keiner zu. Wenn | |
Göring-Eckardt spricht, weiß hinterher keiner, was sie gesagt hat. (Dieses | |
Bonmot ist leider nicht von mir.) Und wenn ihr Ministerpräsident spricht, | |
fühlen sich intern nicht alle „mitgenommen“. | |
Winfried Kretschmann steht übrigens mit seinem nachdenklichen Pragmatismus | |
bei 27 Prozent. | |
20 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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