# taz.de -- Kolumne Die eine Frage: Sechs deutsche Vorurteile | |
> Ist in der Flüchtlingsfrage nach der Euphorie plötzlich „die Stimmung | |
> gekippt“? Viele reden jetzt so. Also, meine Stimmung ist nicht gekippt. | |
> Und Ihre? | |
Bild: Deutschland im Herbst 2015. was ist schon so, wie es aussieht? Szene aus … | |
Vorurteile bestimmen das Leben. Ohne dass man es mitkriegt. Gabriel ist | |
opportunistisch. Comedians sind rechts. Außer Gysi. Grüne ohne Macht sind | |
Illusionisten. Grüne mit Macht sind Verräter. Bild ist immer „Dreck“, auch | |
wenn sie ordentlich berichtet. | |
Es ist unmöglich, zu sehen, was ist, wenn man darauf festgelegt ist, wie es | |
zu sein hat. | |
Nun kommt uns auch noch einer der sich entwickelnden Prozesse des 21. | |
Jahrhunderts nahe; die globale Völkerwanderung. Auch wir Top-Publizisten | |
können damit schlecht umgehen, weil auch wir komplett im Bann unserer | |
Vorurteile sind. | |
Das eine Vorurteil lautet: Noch nie ging es dem Deutschen so gut wie heute | |
und noch nie war er so gut wie heute. (Welzer, Minkmar, Unfried und | |
moderner linker Salon) | |
Das zweite Vorurteil lautet: Scheiße. Der Deutsche ist am Ende. (Strauß, | |
Brandenburger Dorfsalon) | |
Das dritte Vorurteil lautet: Das Böse in Deutschland ist immer und überall. | |
Alles wird schlimm enden. Und ich habe es immer gesagt. Außer es kommt | |
rot-rot-grün. Aber das kommt ja nicht, weil das Böse überall ist. Und | |
außerdem würde das auch schlimm enden. (Augstein und klassischer linker | |
Salon) | |
Das vierte Vorurteil geht davon aus, dass Politik hauptsächlich eine | |
individuelle Moral- und Charakterfrage ist. Dass es da bei der CSU (4.1) | |
schlecht aussieht, ist eh klar. Vom Bavarismus zum Barbarismus sind es nur | |
zwei Konsonanten. Hier beginnt auch die Problemzone der | |
Merkel-Transformations-Analyse. Für die einen (4.2) war Merkel bisher eine | |
seelenlose Machtmaschine. Aber dann: Katharsis! Nun kämpft sie für den | |
Weltethos. Wie man selbst ja auch. Tenor: Geht doch. Für die anderen (4.3) | |
war Merkel bisher ein verlässlicher Wertegarant. Aber dann: | |
Gehirnerweichung! Nun kämpft sie für den ökonomischen Niedergang. Tenor: | |
Mach‘ was, Horst. | |
Ein fünftes Vorurteil lautet: Egal, worüber wir gerade reden, ich spreche | |
auf ironische Art davon, dass die Linken bescheuert sind, denn das ist ja | |
mein USP. (Fleischhauer-Style) | |
Ein sechstes Vorurteil lautet: Egal, worüber wir reden, ich spreche auf | |
moralische Art über die Arbeiter-, geschlechter-, ethnien- und | |
minderheitenverachtenden Paladine des spätkapitalistischen Neoliberalismus. | |
(Nicht identisch mit Vorurteil drei, auch der klassische Salonlinke gilt | |
hier als Paladin) | |
Dann noch das ständige Hin und Her: Die eine Woche schaffen wir‘s, die | |
nächste schafft es uns, kaum sind wir keine Nazis mehr, haben wir Rassismus | |
und Islamophobie schon wieder im Blut. Und im Boden. Wir fahren mit unseren | |
Qualitätsmedien im Aufzug rauf und runter, dass einem richtig schwindlig | |
werden könnte. | |
Was tun? Erstmal innehalten: Wer sagt denn, dass „die Stimmung gekippt“ | |
ist? Meine Stimmung ist nicht gekippt. Wie könnte sie? Das ist keine | |
Stimmungsfrage. Wir sind am Anfang einer komplizierten Situation, die | |
globalen Entwicklungen der nächsten Jahre zu managen. Da ist der Einsatz | |
von sich selbst erfüllenden rechten Negativprophezeihungen überhaupt nicht | |
hilfreich und der von linken Moralzwickmühlen extrem zynisch, weil dadurch | |
jeder Zug zu einem schlechten Ende führt. Und das auch soll. | |
Eine erfolgreiche Flüchtlingspolitik kann nur eine Mischung aus hell und | |
dunkel sein. Erfolgreich meint: Die gelebte Solidarität der sich selbst | |
ermächtigt habenden Bürgergesellschaft in nachhaltig unterstützte Politik | |
in EU, Bund und Ländern umsetzen, damit so vielen wie möglich real geholfen | |
wird. | |
So schwer es uns angesichts unserer Gerechtigkeits-, Vorurteils- und | |
Abgrenzungsbedürfnisse fällt: Wir sollten uns auf das gute Gemeinsame | |
dieser Gesellschaft konzentrieren. | |
18 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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