# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Die kleine rote App | |
> Chinas Staatschef Xi Jinping möchte kein Maoist sein, aber so populär wie | |
> der große „Steuermann“. Statt der Mao-Bibel hat er etwas Digitales. | |
Bild: Das ist nicht die kleine rote Bibel und auch nicht die App, aber doch ein… | |
Mit dem Amtsantritt Xi Jinpings im März 2013 hat sich der Führungsstil in | |
China spürbar geändert. Schon liest man von einem neuen Personenkult um „Xi | |
Dada“ (Onkel Xi). Beobachter aus dem Ausland finden vor allem die mediale | |
Dauerpräsenz des Präsidenten beunruhigend. Xi inszeniert sich sorgfältig | |
für die Öffentlichkeit: beim Fußballspielen, Schießen oder bei einem | |
Abstecher in eine Garküche; wie er von der Menge bejubelt wird; wie er | |
darauf besteht, seinen Regenschirm selbst zu tragen. Das alles zeigt, dass | |
dem Roten Prinzen, Sohn des kommunistischen Helden Xi Zhongxun, die | |
Mobilisierung der Massen à la Mao keineswegs unangenehm ist. | |
Seit einigen Monaten warnen schrille Schlagzeilen in China vor dem | |
Eindringen „westlicher Werte“; nachdem Bildungsminister Yuan Guiren sich | |
über importierte Lehrbücher empörte, die für ein Mehrparteiensystem werben | |
und den Sozialismus diskreditieren. Unternehmen wie Cisco, Apple, | |
Microsoft, Google und Intel wurden als „Vorhut der US-Regierung“ gegeißelt. | |
Wie all seine Vorgänger und viele chinesische Intellektuelle hält Xi | |
Jinping nichts von einer raschen und uneingeschränkten Demokratisierung | |
Chinas. In einer Rede in Brügge erklärte Xi, China habe schon viele | |
politische Systeme erlebt, keines habe funktioniert und ihre | |
Wiedereinführung würde katastrophale Folgen haben. | |
Besorgnis erregt auch Xis Verteidigungspolitik. In den Gebietsansprüchen im | |
Südchinesischen Meer tritt er unverhohlen aggressiv auf und hat die seit | |
Deng Xiaoping (1979–1997) geltende Taktik der Zurückhaltung aufgegeben. Bei | |
einem Besuch in Frankreich 2014 wies er explizit auf die wachsende Macht | |
Chinas hin: „Napoleon hat gesagt, China sei ein schlafender Löwe. Wenn | |
dieser Löwe erwache, werde die Welt vor ihm erzittern. Nun, der chinesische | |
Löwe ist schon erwacht, aber es ist ein friedfertiger, freundlicher und | |
zivilisierter Löwe.“ Xi machte jedoch keinen Hehl aus seiner Absicht, „der | |
Stimme Chinas Gehör zu verschaffen und chinesische Werte in die | |
internationalen Regeln einzubringen“. | |
## Personenkult wie um Mao | |
Der einfache Stil, die Selbstdarstellung als starker Führer und der | |
Personenkult erinnern stark an Mao. Wie dieser hat Xi stets eine deutliche | |
Meinung zu allem und jedem, von Religion über Bildung bis zum Thema Schlaf | |
oder Erotisierung der Gesellschaft. Im Dezember 2014 schimpfte er über die | |
„vulgäre“ Kunstwelt und schlug vor, Künstler einmal im Jahr zu einfachen | |
Leuten aufs Land zu schicken, auf dass sie den sozialistischen Werten | |
dienen lernen – wie zu Zeiten der Kulturrevolution, als Intellektuelle aufs | |
Land verbannt wurden. | |
Wie sein vor drei Jahren gestürzter Rivale Bo Xilai, der einst als | |
KP-Sekretär in Chongqing Furore gemacht hatte, bedient sich Xi gerne mit | |
Sentenzen aus der Maobibel. Er hat auch das maoistische Prinzip | |
wiederbelebt, die Kader engen Kontakt zum einfachen Volk pflegen zu lassen | |
und dessen Vorschläge zu sammeln. | |
Xis plakativste Kampagne richtet sich gegen die Korruption: „die Tiger | |
töten und die Fliegen zerquetschen“, also die höchsten Kader so wenig | |
verschonen wie die unteren. Mehr als 200 000 Funktionäre wurden bereits vor | |
Gericht gestellt. Zhou Yongkang, einst Mitglied des Staatsrats und | |
Sicherheitschef, war der höchste Funktionär seit dem Prozess gegen die | |
Viererbande, der vor Gericht gestellt wurde. Anfang Juni wurde er zu | |
lebenslanger Haft verurteilt. Insgesamt wurden 400 000 Menschen wegen | |
Korruption bestraft. | |
## Strenge Zensur und Säuberungen | |
Im letzten Jahr wurden nach Angaben von Chinese Human Rights Defenders auch | |
an die 1000 Anwälte und andere Vertreter der Zivilgesellschaft verhaftet – | |
in diesem Ausmaß ist das seit 1989 nicht mehr vorgekommen. Auch der Zugang | |
zum Internet wurde stark eingeschränkt; die Verbindung zu Google und Gmail | |
war noch nie so schlecht. Außerdem gab es unvorhersehbare Blockaden der für | |
User in China unentbehrlichen Virtual Private Networks (VPN) für den Zugang | |
zum World Wide Web. Die Zensur von Journalisten, Künstlern, Professoren und | |
Intellektuellen ist deutlich strenger geworden. | |
Deng Xiaoping hatte innerhalb der Partei auf kollektive Führung gesetzt, um | |
den Aufstieg eines neuen starken Mannes zu verhindern. Xi hingegen sammelt | |
Ämter: Er ist Generalsekretär der KPC, Präsident der Zentralen | |
Militärkommission (ZKM) und Direktor verschiedener Organe für nationale | |
Sicherheit und Cybersicherheit. Er ist der unbestreitbar autoritärste | |
Herrscher seit Mao. | |
Zwar bezieht sich Xi vielfach auf den Großen Steuermann, doch bestimmte | |
Elemente des Maoismus spart er aus. So nutzt er weder die Bauern als | |
politische Basis, noch propagiert er außenpolitischen Isolationismus. | |
Ebenso wenig lehnt er internationale Institutionen, Privateigentum und den | |
Konfuzianismus ab. Wenn Xi sich auf Mao beruft, dann um seine eigene | |
Popularität zu steigern. Maos Name, der im Westen meist mit Hungersnot, | |
desolater Wirtschaftspolitik und Verfolgung verbunden wird, steht in China | |
immer noch für Macht und nationale Würde, Integrität, soziale | |
Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und industriellen Fortschritt. Nach einer | |
Umfrage vom Dezember 2013 (im Auftrag der parteinahen, auf Englisch | |
erscheinenden Zeitung Global Times) überwogen für 85 Prozent der Befragten | |
Maos Erfolge seine Fehler und Niederlagen. | |
Dass Xi die Pose des starken Mannes einnimmt, ist angesichts der tiefen | |
Krise und der Notwendigkeit einer Modernisierung in China allzu | |
verständlich. Der Staatschef gibt sich als Retter der Nation und bedient | |
damit eine wesentliche Forderung der „Neo-Autoritären“, die sich in | |
Reaktion auf die Studentenproteste von 1989 formiert haben. | |
Um sich bei den Massen zu Geltung zu bringen, setzt Xi | |
Kommunikationstechniken ein, die in Europa und den USA verfeinert wurden | |
und die auf dem Charisma und der Personalisierung von Macht beruhen. Mit | |
dem Personenkult sowjetischer Prägung hat das nicht mehr viel gemein. So | |
stilisiert er sich zum großen Saubermann, der die Partei vom Schmutz | |
befreit. Das ist deshalb wichtig, weil soziale Ungleichheit und der | |
opulente Lebensstil von Parteikadern und ihrer Entourage ein großes Thema | |
ist. Davon zeugen die Debatten im chinesischen Internet und die circa 150 | |
000 Protestaktionen, die jährlich gezählt werden. | |
## Die Worte des Vorsitzenden Xi | |
Xi tritt auf wie ein furchtloser Shaolin-Mönch, als geschickter und | |
mächtiger Retter, der im rechten Moment zu Hilfe eilt. Einer, der das Land | |
in den vielen drohenden Gefahren – Korruption, Umweltzerstörung, | |
Terrorismus, Unruhen in Tibet, Xinjiang und Hongkong, nicht zu vergessen | |
die schwächelnde Wirtschaft – beschützen kann. Deshalb betont er auch gern, | |
wie schlimm die gegenwärtige Krise ist: „Die Verantwortung unserer Partei | |
für Reformen, Entwicklung und Stabilität des Landes wiegt schwerer denn je, | |
und die Konflikte, Gefahren und Herausforderungen sind zahlreicher denn | |
je.“ | |
Die moderne Xi-Variante von Maos Kleinem Roten Buch ist die [1][“Kleine | |
Rote App“ für Smartphones, auf der Xis Gedanken und Lieblingsgedichte | |
abrufbar]. Die Presse hat sich zwar sehr darüber amüsiert, doch an ihrer | |
Verbreitung kann man indirekt ablesen, wie die Bevölkerung Xi wahrnimmt, | |
von der mehr als die Hälfte ein Smartphone besitzt. Während manche mit | |
Bangen eine neue Kulturrevolution heraufziehen sehen, bewerten User die | |
App, die zu den fünf am häufigsten heruntergeladenen Bildungs-Apps gehört, | |
mit 3,5 (von 5). | |
Im Gegensatz zu diesem nicht ganz ernst zu nehmenden Indikator wird man dem | |
US-Meinungsforschungsinstitut Pew Research Center wohl kaum Parteilichkeit | |
vorwerfen: In einer Umfrage von 2014 gaben 92 Prozent an, sie vertrauten | |
ihrem Präsidenten; das sind 10 Prozentpunkte mehr als bei seinen Vorgänger | |
Hu Jintao. | |
Natürlich sind die Ergebnisse auch solcher Umfragen mit Vorsicht zu | |
genießen. Aber sie zeigen zumindest, wie weit die Urteile im In- und | |
Ausland auseinanderliegen. Besonders populär, und zwar vor allem bei der | |
Jugend, sind Xis Anstrengungen, China auf dem internationalen Parkett mehr | |
Gewicht zu verleihen. Auch sein Kampf gegen die Korruption, der die | |
Parteikader ihrer Unantastbarkeit zu berauben und sie mit normalen Bürgern | |
auf eine Stufe zu stellen scheint, kommt gut an. | |
Die Mittel- und Oberschicht lässt sich am meisten von seinem Willen | |
beeindrucken, die Wirtschaftsreformen fortzusetzen und zu vertiefen. Der | |
Generalsekretär hat nichts gegen die Aufnahme von Unternehmern in die | |
Partei, eine Praxis, die Jiang Zemin vor 15 Jahren mit der sogenannten | |
Dreifachen Vertretung“ (sān gè dàibiăo) einführte und die allen | |
maoistischen Prinzipien zuwiderläuft. Aber er will China mit seinen eigenen | |
Slogans prägen, wie dem „chinesischen Traum“ und den „vier globalen Ziel… | |
(vollständige Errichtung einer gemäßigt wohlhabenden Gesellschaft, | |
Vertiefung der Reform, Rechtsstaat und Parteidisziplin). | |
Und Xi würde gern über Jiang Zemin (1989–2002) und Hu Jintao (2002–2012) | |
stehen, auf einer Stufe mit Mao und Deng. Die großen Reformen, wie die | |
Lockerung der Einkindpolitik (ein zweites Kind ist erlaubt, wenn ein | |
Elternteil selbst Einzelkind ist) oder die Abschaffung der Lager für | |
Umerziehung durch Arbeit, die 2013 für Schlagzeilen sorgten, sind zwar | |
wesentlich kleiner ausgefallen als angekündigt; dennoch ist unverkennbar, | |
dass unter Xi mehr Wettbewerb und Marktöffnung kommen wird. Ganz bestimmt | |
geht es nicht zurück zur maoistischen Planwirtschaft. | |
18 Oct 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.pri.org/stories/2015-04-09/mao-had-little-red-book-xi-jinping-ha… | |
## AUTOREN | |
Emilie Frenkiel | |
Émilie Frenkiel | |
## TAGS | |
Xi Jinping | |
China | |
Mao | |
Kommunismus | |
China | |
China | |
Schwerpunkt Frankreich | |
China | |
China | |
China | |
Peking | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Zensur in China: Apple ohne Rückgrat | |
Der US-Konzern hat die App der „New York Times“ in China aus seinem Angebot | |
gelöscht. Damit wurde auch die letzte Möglichkeit, sie zu lesen, | |
geschlossen. | |
Alterung der Gesellschaft: China schafft Ein-Kind-Politik ab | |
In China dürfen Paare künftig zwei Kinder bekommen. Das entschied das | |
Zentralkomitee in Peking. Damit findet die 1979 eingeführte | |
Ein-Kind-Politik ein Ende. | |
Regionalwahlen in Frankreich: Die vage Idee der linken Einheit | |
Die Sozialisten beschwören in Frankreich per Abstimmung im Internet die | |
linke Einheitsfront. Doch die Gräben sind längst zu tief. | |
Filmvorlieben von Chinas Staatschef: House of Xi Jinping | |
Chinas Staats- und Parteichef outet sich als Kenner US-amerikanischer | |
Populärkultur. Er widerspricht damit der politischen Linie seines Landes. | |
Militärpolitik in China: Tauben und Kampfjets über Peking | |
Mit einer Militärparade hat die Regierung an Chinas Sieg über Japan im 2. | |
Weltkrieg erinnert. Präsident Xi Jinping will die Armee um 300.000 Soldaten | |
verkleinern. | |
Festnahmewelle in Peking: Schlag gegen Bürgerrechtsanwälte | |
Mehr als 140 Bürgerrechtsanwälte und Aktivisten waren von den Behörden | |
festgesetzt worden. Zwar sind viele wieder frei, doch 22 von ihnen sind | |
noch verschwunden. | |
Chinas Zivilgesellschaft gefährdet: NGOs droht die totale Kontrolle | |
Staatsoberhaupt Xi Jinping zieht die Zügel an: NGOs sollen künftig der | |
direkten Aufsicht der Staatssicherheit unterstellt werden. |