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# taz.de -- Computerlinguist über digitale Lektüre: „Es kommt dem wilden Le…
> Warum fällt vielen die Konzentration auf Bücher immer schwerer? Das hat
> mit Smartphones zu tun, sagt Henning Lobin – und dem Buchstaben F.
Bild: Wir setzen Lesemuster, die wir online lernen, unbewusst auch offline ein,…
taz. am wochenende: Herr Lobin, können Sie sich eine Welt vorstellen, in
der niemand mehr liest?
Henning Lobin: Nein. Und zwar weil das Lesen eine einzigartige
Informationsvermittlung darstellt. Ohne sie kommen wir einfach nicht aus.
In Ihrem Buch „Engelbarts Traum“ behaupten Sie, dass die Art und Weise, wie
wir lesen, sich radikal wandelt. Erleben wir eine Revolution des Lesens?
Wenn man mit Revolutionen anfängt, wird einem das schnell um die Ohren
gehauen: Es ist ein Prozess – wie bei Gutenberg. Wir erleben gerade eine
neue Qualität in der Digitalisierung des Lesens. Wir bewegen uns erstmalig
in einem Bereich, in dem Text nicht mehr materiell fixiert ist, sondern
immaterielle Texte in beinahe unbegrenzter Weise auf Computern verfügbar
sind. In das zukünftige Lesen – oft auch das heutige Lesen – greift der
Computer massiv ein.
Was meinen Sie damit?
Wenn wir im Netz Informationen über eine Suchmaschine abgreifen, nutzen wir
den Computer: als sehr schnellen, aber dummen Gehilfen. Er ergänzt unser
langsames, auf Bedeutung abzielendes Lesen. Ohne das kommen wir in vielen
Bereichen nicht mehr aus. Darüber hinaus unterstützt der Computer uns beim
Lesen. Es gibt Techniken, bei denen die Wörter an einer bestimmten Stelle
des Displays projiziert werden, in einer sehr schnellen Reihenfolge.
Wie bei Spritz, einer App, die uns viermal schneller lesen lässt. „Harry
Potter“ in 77 Stunden.
Genau. Und das ist eine Art von Lesen, die nur im digitalen Medium
überhaupt möglich ist. Solche Formen des Lesens – auch das automatische
Anpassen von Texten an unser Leseverhalten durch Verfolgen von
Blickbewegungen – werden mehr werden.
Verändert sich dadurch die Art, wie wir Texte wahrnehmen?
In digitalen Medien folgen wir typischen Wahrnehmungsmustern. Das zeigt die
Analyse solcher Blickbewegungen. Diese Muster leiten sich vom Durchforsten
von Listen auf dem Bildschirm ab, beispielsweise in Suchmaschinen. Man
schaut sich die oberen Ergebnisse genauer an, als die unteren, liest von
links nach rechts. Das ergibt eine Schwerpunktsetzung oben links. Daraus
folgt eine charakteristische F-Struktur. Interessant ist: Wir setzen diese
Lesemuster unbewusst auch bei Texten ein, die für diese Art des
Durchscannens gar nicht geeignet sind, einem Zeitungsartikel etwa.
Was bedeutet das für uns?
Dass wir derartige Texte nicht so tief erfassen. Wenn uns jemand eine Frage
dazu stellte, fiele es uns schwer, sie zu beantworten. Dieses Scannen von
Texten befindet sich auf der Skala der Leseformen gewissermaßen in der
Mitte: zwischen dem genussvollen, literarischen und dem konzentrierten,
analytischen Lesen. Klickt man sich dabei noch von einem Text zum nächsten,
kommt es dem nahe, was manche das wilde Lesen nennen. Ein sprunghaftes, von
Interessen geleitetes Lesen.
Legen wir Bücher dadurch schneller weg?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Es ist ja nur eine der vielen Arten
des Lesens, die wir anwenden.
Aber es wird schwerer, zwischen den verschiedenen Medien umzuschalten.
Wir müssen darauf achten, manche Formen des Lesens nicht zu verlernen, das
stimmt. In der Schule, in der Ausbildung, im Studium, privat. Wir dürfen
uns nicht auf dieses fragmentierte Lesen von Textschnipseln beschränken.
Ein Kollege von Ihnen, Alexander Markowetz, behauptet, dass uns genau das
seltener gelingt.
Das digitale Lesen ist natürlich in einen starken Medienkonsum eingebettet.
Bilder, Videos, oft sehr Kleinteiliges. Das wird noch zunehmen.
Andererseits haben wir eine derartige Kritik schon zu anderen Zeiten
gehabt.
Sokrates, um mal den Ältesten zu nennen.
In der Tat. Er glaubte, dass die Schrift unser Gedächtnis verdrängen würde.
Das ist meines Wissens nicht passiert. Und ich glaube nicht, dass das
digitale Lesen uns hindert, konzentriert zu lesen – und Freude am Lesen zu
haben. Ein Phänomen, dass direkt mit der Digitalisierung einher ging, war
der enorme Erfolg von „Harry Potter“.
Was hat das denn miteinander zu tun?
Die heutige Generation Smartphone ist damit aufgewachsen. Nehmen Sie meine
Tochter: Die ist 23 Jahre alt. Seit sie lesen kann, kennt sie „Harry
Potter“ und ist zusammen mit dem Erscheinen der Bände größer geworden. Auch
diese Leseerfahrung hat sie geprägt.
Brauchen wir eine Diät vom schnellen Lesen? Ich denke an die
Slow-read-Bewegung.
Die brauchen wir sicherlich. Es geht aber weniger um eine
Grundsatzentscheidung, als um das Bewusstsein dafür, wann wir welche
Technik einsetzen.
Wie lernt man das?
Gute Frage. Diese Dinge werden an Schulen zwar nicht ignoriert. Aber sie
spielen nicht die Rolle, die sie spielen sollten.
Dabei haben wir doch die Medienkompetenz.
Es geht nicht nur um Medienkompetenz. Die vermittelt, wie man Medien am
besten nutzt. Wir brauchen auch einen Blick hinter die Kulissen: Was
passiert beim digitalen Lesen und Schreiben in sozialen Medien? Wie
beeinflussen Algorithmen unsere Wahrnehmung, wenn wir Suchmaschinen
einsetzen? Wir brauchen eine Digitaldidaktik, die derartige Fragen ganz
praktisch beantwortet, quer durch alle Schulfächer.
9 Oct 2015
## AUTOREN
Giacomo Maihofer
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