# taz.de -- Autor über DDR-Erinnerungen: „Euphorie und Untergang“ | |
> Was hat die Wende mit den Leuten gemacht? Der Hallenser Autor Bodo | |
> Schwarzberg hat 1.600 ehemalige DDR-Bürger befragt. | |
Bild: Die DDR war manchmal ganz schön bunt: Werbung für einen IFA-Trabanten. | |
taz: Herr Schwarzberg, Sie haben sich seit 1998 von 1.600 Menschen ihre | |
Lebensgeschichte erzählen lassen, inzwischen haben Sie mehrere Bücher von | |
insgesamt 4.500 Seiten veröffentlicht. Wie hat die Wende das Leben der | |
einzelnen Menschen beeinflusst? | |
Bodo Schwarzberg: Es hat die Leben fast aller Menschen regelrecht | |
durcheinandergewirbelt. Für viele war es ein Einschnitt, von dem aus sich | |
viele Weichen im Leben neu gestellt haben. Davor lief ja der ganze | |
berufliche Weg fast von allein, man ging auf die Polizeischule, machte noch | |
ein Zusatzstudium in der Sowjetunion, alles war vorbestimmt – und kaum zu | |
beeinflussen. Durch die Wende war plötzlich nichts mehr vorherbestimmt und | |
wenig beeinflussbar – man konnte sein Berufsleben plötzlich in die eigene | |
Hand nehmen. | |
Eine Riesenchance, sich doch noch verwirklichen zu können. | |
An sich schon: Die neue Freiheit war für fast alle Menschen erst einmal ein | |
Segen. Aber weil niemand diese Freiheit kannte, waren fast alle davon erst | |
einmal überfordert. Das Überschreiten des alten Horizonts war etwas ganz | |
Schwieriges: Lernen durch Versuch und Irrtum – und das auf allen Gebieten | |
des Lebens. Die Euphorie der freien Entfaltung und die Erfahrung des | |
persönlichen Untergangs lagen eng beieinander. Von heute auf morgen hatten | |
sie ein für sie ganz neues System übergestülpt bekommen, von dem sie nur | |
Filme, Werbung und Westpakete kannten. Eine Notarin aus dem Westen erzählte | |
mir, dass sie den Menschen in ihrer Betäubung und glückseligen | |
Orientierungslosigkeit erst einmal dabei helfen musste, selbst aktiv zu | |
werden. Wie suche ich nach Arbeit? Wie melde ich das Grundstück, auf dem | |
mein Haus steht, als Eigentum an? | |
Den Leuten fehlte das Wissen … | |
… und das Selbstbewusstsein. Es galt auch Ängste abzulegen, die die | |
Menschen bis 1989 bestimmten, vor Behörden, Politikern, Seilschaften. Sie | |
mussten lernen, dass es von ihrer Aktivität abhing, wie es mit ihnen | |
weiterging. Sie konnten nicht nur alles selbst in die Hand nehmen, sie | |
mussten es auch. Es konnte positiv ausgehen, wie bei einem meiner | |
Gesprächspartner, einem Autoschlosser, der heute rund 30 Autohäuser mit | |
Hunderten Angestellten besitzt. Er hat eine Art Unternehmer-Gen, lernte | |
schnell die Regeln der Marktwirtschaft. Solche Erfolgsgeschichten sind eher | |
die Ausnahme. | |
Was geschah bei der Mehrheit der Menschen? | |
Die meisten sind nicht untergegangen, aber auch nicht glücklich geworden. | |
Der plötzliche Widerspruch zwischen den unendlich vielen Chancen und den | |
persönlichen Möglichkeiten begann ebenso seinen Tribut zu fordern wie der | |
ungewohnte Stress in der Leistungsgesellschaft. Als den ehemaligen | |
DDR-Bürgern unter den neuen Verhältnissen klar wurde, dass sie | |
eigenverantwortlich nicht das erreichen würden, was sie anstrebten, hatte | |
das manchmal auch fatale Folgen. Ich habe einmal einen Bauunternehmer | |
interviewt, der große Träume und Wünsche hatte und sich hoch verschuldete. | |
Das Geschäft lief dann nicht so gut, wie er es sich vorgestellt hatte. Die | |
Forderungen haben schwer auf ihm gelastet. Ein paar Wochen nach dem | |
Interview ist er mit dem Auto verunglückt. Es geschah auf einer geraden | |
Strecke, man hörte, es sei Selbstmord gewesen. In der DDR wäre er beruflich | |
wohl kaum in eine solche Situation geraten. | |
Weil die beruflichen Bahnen da vorbestimmt waren … | |
… und das hatte trotz aller Eingeschränktheit auch etwas Positives: Es gab | |
einen größeren sozialen Zusammenhalt, Minderwertigkeitsgefühle wurden von | |
der Gemeinschaft abgefedert. Weil man ohnehin kaum etwas an seiner | |
Situation ändern konnte und es bedeutend weniger Freizeit- und | |
Entfaltungsmöglichkeiten gab, hatte man viel mehr Zeit füreinander, vom | |
Gespräch am Gartenzaun bis zu regelmäßigen Feiern. Eine Hausärztin erzählte | |
mir von zwei Nachbarn, die sich vor der Wende oft gegenseitig in ihren | |
Gärten besuchten und auch halfen. Nach der Wende sprachen sie nicht mehr | |
miteinander. Nach der Arbeit waren sie viel zu kaputt für freundliche | |
Worte. Und dann war da auch noch der Neid. Einer verstärkte seinen | |
Lattenzaun durch eine undurchdringliche Koniferenhecke. In der DDR waren | |
die Haustüren zumindest auf dem Lande eigentlich nie abgeschlossen, jeder | |
Besucher konnte einfach die Klinke drücken und eintreten. Trotz Stasi gab | |
es weniger Misstrauen unter den Menschen, als viele vielleicht denken, so | |
manche Hemmschwelle war niedriger, Standesdünkel spielten keine Rolle. Als | |
wir den ersten Weststudenten, die an unserer Uni einsickerten, vom | |
Studentenleben und von ausschweifenden Orgien erzählten, wollten manche das | |
kaum glauben, hatten sie doch das Bild eines diktatorischen, farblosen | |
Systems im Sinn. Ich wollte mit meinen Gesprächen auch einen Teil dazu | |
beitragen, die Zeit vor der Wende so darzustellen, wie sie wirklich war. | |
Was überwiegt, das Positive oder das Negative? | |
Eindeutig das Positive. Es macht für die Menschen wieder Sinn, sich in ein | |
Projekt zu vertiefen, es kann sich lohnen, eine Sache zu verfolgen. Das | |
bedeutet: Zeit ist wieder wertvoll geworden. Aber natürlich gibt es auch | |
Schattenseiten: Zeit und Freiheit sind durch den Systemwechsel unlösbar mit | |
dem Thema Geld verbunden worden. Einsamkeit, Depressionen, weniger Kinder, | |
das sind nur einige Folgen der damit einhergehenden Unsicherheiten, | |
Unregelmäßigkeiten und des Stresses. Jeder muss selbst schauen, wo er | |
bleibt. | |
Gab es nicht auch in der DDR Bevorteilte? | |
Wer im Staatsdienst gearbeitet hatte, war deshalb noch lange kein | |
bösartiger Regime-Scherge. Da wird heute stark vereinfacht. Der Erfurter | |
Helmut Zinke hat als höherer Polizeioffizier mehr als 800 Bomben | |
entschärft, auch im Vietnamkrieg, und er hatte schon in der DDR einen | |
Sonderstatus. Das Gespräch mit ihm war sehr eindrucksvoll, er hat die Wende | |
gut überstanden, musste aber wegen Staatsnähe für einen Teil seiner Rente | |
vor Gericht ziehen. Er ist auch heute noch ein Star sowie ein gefragter | |
Fachmann, mehrere Städte und Dörfer, in denen er entschärfte, machten ihn | |
zum Ehrenbürger. | |
Was war mit den höherrangigen Parteifunktionären? | |
Durch die Wende hat sich für die meisten von ihnen alles geändert. Ihr | |
Wertesystem wurde mit dem 9. November 1989 komplett auf den Kopf gestellt. | |
Frühere NVA-Offiziere, die ideologisch sehr einseitig ausgerichtet waren, | |
hatten als Feindbild die Nato und die Bundeswehr verinnerlicht – nun | |
mussten sie sich plötzlich zum westlichen Bündnis bekennen. Das, was vorher | |
als das einzig Richtige angesehen worden war, wurde plötzlich verteufelt. | |
Das hat manches Leben kaputtgemacht. Frühere Grenzoffiziere mussten in | |
psychische Behandlung, manche waren suizidgefährdet. Als in der | |
Bild-Zeitung in einer Liste von Inoffiziellen Stasi-Mitarbeitern, kurz IM, | |
der Name eines Hochschuldozenten auftauchte, wandte sich dessen halber | |
Freundeskreis von ihm ab, wenig später verlor er auch noch seinen Job. Von | |
ihnen sprach nach der Wende niemand. | |
War es nicht richtig, solche Leute zu entlassen? An den Hochschulen sollte | |
es einen Neuanfang geben … | |
Klar, das war oft berechtigt, solche Menschen haben ihre Macht teilweise | |
auf grausame Weise missbraucht. Sie haben Studenten erpresst, angeschwärzt | |
und Lebenswege zerstört, bloß weil diese religiös waren oder eine | |
unabhängige Hochschulzeitung ins Leben rufen wollten. Aber in vielen | |
anderen Fällen hat man vorschnell geurteilt, meist gab es nicht einmal | |
einen richtigen Prozess. In den sogenannten Personalkommissionen, die über | |
den Verbleib der Mitarbeiter an der Uni urteilten, saß so mancher, den die | |
Partei zuvor am Aufstieg gehindert hatte. Jetzt hatten sie die Chance, | |
persönliche Rechnungen zu begleichen. Denn viele Menschen in der DDR wurden | |
im Interesse ihrer Karriere von der Stasi bedrängt, bei der Bespitzelung | |
mitzumachen. Der Hochschuldozent, dessen Name auf der Liste veröffentlicht | |
worden war, hat mir unter Tränen erzählt, dass man ihn in den 1970er Jahren | |
zur Stasimitarbeit gezwungen hatte, andernfalls hätte er nicht an der Uni | |
bleiben dürfen. | |
Glauben Sie, dass es immer noch Menschen gibt, die die DDR zurückhaben | |
möchten? | |
Mancher sehnt sich nach der klaren Strukturiertheit, nach der | |
Übersichtlichkeit. Auch nach dem Respekt, der Lehrern oder auch | |
Polizeibeamten entgegengebracht wurde. Einigen missfällt auch, dass es | |
öffentlich oder auch im Bildungssektor kaum noch thematisiert wird, ob | |
unser System zukunftsweisend ist und trotz seiner Profitbasiertheit diesen | |
Planeten und seine Bewohner erhalten kann. Die DDR-Politiker waren dem | |
eigenen System gegenüber tödlich unkritisch. Heute, so scheint es mir, | |
herrscht wieder eine Art Blindheit gegenüber sich selbst. | |
3 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Christian Heinrich | |
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