# taz.de -- Bundeskongress von Verdi: Happy Gewerkschafter | |
> Verdi-Chef Bsirske stand mehrfach in der Kritik. Dennoch wird er | |
> wiedergewählt. Bei der Gewerkschaft ist man zufrieden mit sich. | |
Bild: So sehen Klischee-Sieger-Bilder aus: Frank Bsirske nach seiner Wahl. | |
LEIPZIG taz | In den Pausen dröhnt „Happy“ von Pharrell Williams aus den | |
Boxen, um gute Stimmung unter den Gewerkschaftern in der Leipziger Messe zu | |
verbreiten. Doch das ist gar nicht nötig. Die meisten der rund 900 | |
Delegierten sind bester Dinge. Wer aufgrund der nicht ganz so glorreich | |
erscheinenden Rolle der Verdi-Führung bei den Arbeitskämpfen bei der Post | |
oder im Kita-Bereich eine kontroverse Veranstaltung erwartet hat, sieht | |
sich getäuscht. Die zweitgrößte Gewerkschaft Deutschlands ist mit sich und | |
ihrem Vorsitzenden Frank Bsirske zufrieden. Das ist die Botschaft des 4. | |
Verdi-Bundeskongresses. | |
In seinem Rechenschaftsbericht am Montag feierte Bsirkse 94 Minuten lang | |
eine „bärenstarke Leistung“ nach der anderen - im öffentlichen Dienst üb… | |
die private Abfallwirtschaft bis zur Berliner Universitätsklinik Charité. | |
„Tatsächlich haben wir in den letzten Jahren eine ganze Reihe | |
bemerkenswerter Erfolge erzielen können“, sagte der Grüne, der seit der | |
Gründung 2001 an der Verdi-Spitze steht. | |
Und das wird er auch die kommenden vier Jahre: mit 88,5 Prozent der Stimmen | |
wurde er am Dienstag wiedergewählt. Auch seine beiden blassen | |
StellvertreterInnen Andrea Kocsis (90,2 Prozent) und Frank Werneke (92,7 | |
Prozent) bleiben auf ihren Posten. Am Ende seiner Amtszeit wird Bsirske 67 | |
Jahre alt sein – ein spätes Renteneintrittsalter, von dem Verdi eigentlich | |
überhaupt nichts hält. Doch wenn es um ihren Chef geht, sieht das anders | |
aus. „Ich steh’ voll dahinter, dass uns der Frank nochmal vertritt“, sagte | |
eine junge Delegierte unter großem Beifall. Denn die Gewerkschaft sei zwar | |
gegen die Rente mit 67. Aber: „Wir sind auch für ein selbstbestimmtes | |
Leben.“ | |
Bsirske führt sein selbstbestimmtes Leben an der Verdi-Spitze in bewegten | |
Zeiten. Noch nie seit Gründung sei Verdi „in einem solchen Ausmaß gefordert | |
gewesen wie 2015“, sagte er. So habe es alleine im ersten Halbjahr 1,5 | |
Millionen Streiktage gegeben. „10 bis 20, ja 30 Streikbeschlüsse“ auf einer | |
Bundesvorstandssitzung seien „keine Seltenheit“. Das hat sich die | |
Gewerkschaft einiges kosten lassen: Das Volumen der Streikaufwendungen | |
liegt in diesem Jahr über 100 Millionen Euro. | |
Einer der Gründe für die zahlreichen Ausstände sei, dass das Lohnniveau im | |
Dienstleistungsbereich in der Regel deutlich niedriger sei, sagte Bsirske. | |
Ein anderer: Mittlerweile sind nur noch 60 Prozent der Beschäftigten im | |
Westen und 47 Prozent im Osten tarifgebunden. „Würden Arbeitgeber nicht aus | |
der Tarifbindung fliehen, gäbe es diese Anzahl an Streiks überhaupt nicht.“ | |
## Verzweifelter Kampf | |
Ein Beispiel für den geradezu verzweifelten Kampf Verdis für die | |
Tarifbindung ist der Konflikt bei Amazon. Seit mehr als zwei Jahren | |
versucht die Gewerkschaft, dem Onlineversandhändler einen Tarifvertrag | |
abzutrotzen – bislang vergeblich. Aber etwa tausend Mitglieder hat Verdi | |
nach eigenen Angaben durch ihre Streikaktionen bei Amazon hinzugewonnen. | |
Die Tarifauseinandersetzung im Sozial- und Erziehungsdienst soll sogar | |
27.000 Eintritte gebracht haben. Knapp 99.000 Neue vermeldet Verdi so für | |
die ersten acht Monate dieses Jahres. Allerdings sind auch die Abgänge | |
beträchtlich. „Nach wie vor verlieren wir pro Jahr 120.000 bis 135.000 | |
Menschen“, musste Bsirske einräumen. | |
Nur an einer Stelle räumte Bsirske ein, dass es „nicht überall nur Erfolge | |
gegeben“ habe. So hätte der Konflikt um die Tarifbindung des zentralen | |
Callcenters der Madsack-Verlagsgruppe „nach mehr als 100 Tagen Streik mit | |
der Schließung des Unternehmens“ geendet. Zu diesem Ergebnis fiel nicht | |
einmal mehr ihm eine positive Wendung ein. Aber selbst dem Tarifkonflikt | |
bei der Deutschen Post bescheinigte Bsirske, dass „an dessen Ende heute ein | |
Ergebnis steht, bei dem der Erfolg der Streikenden eindeutig überwiegt“. | |
## Selbstkritik? Eher nicht | |
Selbstkritik gehört nicht zu den hervorstechendsten Eigenschaften der | |
Verdi-Spitze. Aber das wird von der überwiegenden Mehrzahl der 900 | |
Delegierten in Leipzig auch offenkundig nicht erwartet. In der – auf drei | |
Minuten pro Beitrag begrenzten - Aussprache zum Geschäfts- und | |
Rechenschaftsbericht des Vorstands am Dienstag gab es nur ganz vereinzelte | |
Stimmen, die die „vernebelnde Prosa“ beklagten. | |
Das dürfte auch an einer fehlenden Strukturierung der Debatte gelegen | |
haben. Statt über einzelne Komplexe konzentriert zu diskutieren, ging es | |
quer durch den Garten. Und der ist bei Verdi groß: 1.000 Berufe - von der | |
Friseurin über den Briefträger und den Friedhofsgärtner bis zur | |
Journalistin - organisiert die Gewerkschaft, unterteilt in dreizehn | |
Fachbereiche. Und zu jedem lässt sich dies und jenes sagen. | |
Aber das eine oder andere kritische Wort gab es doch. Da sei „ein bisschen | |
schöngeredet“ worden, sagte der Düsseldorfer Kaufhof-Betriebsrat Helmut | |
Born. Wenn man nichts Gutes erreicht habe, „da sollten wir ein paar | |
kritische Worte zu verlieren“, sagte er mit Blick auf den Poststreik. | |
Werner Siebler aus Freiburg kritisierte, dass der umstrittene Postabschluss | |
nicht den betroffenen Mitgliedern zur Abstimmung vorgelegt wurde: „Man darf | |
sie nicht nur aufrufen zum Streik, man muss sie auch mitentscheiden | |
lassen.“ | |
22 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
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