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# taz.de -- Flüchtlinge in Kroatien: Grenzort, öffne dich!
> Endlich kommen Busse und Züge in Tovarnik an. Tausende Migranten
> versuchen nun den kroatischen Grenzort zu verlassen.
Bild: Hauptsache weg! Migranten saßen tagelang im kroatischen Tovarnik fest. N…
Tovarnik taz | So sieht es also aus, wenn in ein erstarrtes Nadelöhr
endlich Bewegung kommt. Es ist Samstagnacht, halb eins, und die
Menschenschlange zieht sich mehrere Hundert Meter über die Zufahrtsstraße
zum Bahnhof von Tovarnik. Sobald ein Bus vorfährt, füllt er sich innerhalb
von Minuten, kurz darauf kommt schon der nächste. Ein, zwei Gepäckstücke
haben die meisten mit sich, einen Rucksack, eine Tüte oder beides. Kleine
Kinder stehen in der Reihe, und so mancher hier konnte sich von den Helfern
ein Regencape ergattern. Am Horizont wetterleuchtet es noch. Das Gewitter
hat der Hitze der letzten Tage ein Ende gemacht.
Noch immer halten sich rund 1.200 Migranten zwischen den letzten Häusern
des Dorfs an der serbischen Grenze und dem Bahnhof auf. In Zelten und auf
Isomatten oder Decken campieren sie um die alte Fabrik herum und entlang
des Weges. Auf einer Wiese stehen Zelte: eins für die Essensausgabe, eins
für Material und eins für medizinische Versorgung. Ein Wasserschlauch und
Toilettenhäuschen hinter den Fabriksilos schaffen Abhilfe bei den
schlimmsten sanitären Problemen.
Das informelle Flüchtlingscamp ist ein Ergebnis der allumfassenden
Konfusion dieser Tage: Da öffnet Kroatien zuerst seine Grenze, schließt sie
wenig später wieder, um die von Serbien Angekommenen in Tovarnik an der
Weiterreise zu hindern, nur um diese am Tag darauf ausgerechnet an die
ungarische Grenze zu fahren. Das Nachbarland kann in puncto Ambivalenz
mitreden: Es nahm Flüchtlinge an und brachte sie weiter nach Österreich,
fuhr zugleich aber fort, an der gemeinsamen Grenze einen weiteren Zaun zu
bauen – neben dem fertigen an der serbischen Grenze und dem begonnenen an
der rumänischen.
## Wie ein Vabanquespiel
Unter solchen Voraussetzungen wird der Grenzübertritt zum Vabanquespiel.
Ins serbische Nachbardorf Šid kommt man nicht mehr, die einzige Verbindung
nach Serbien ist daher der Hauptzugang über die Autobahn zwischen Zagreb
und Belgrad. Dort stauen sich Lkws mehrere Kilometer, und die Polizisten
machen eine Meisterschaft daraus, gewöhnliche Autos nach allen Regeln der
Kunst auseinanderzunehmen und Gepäckstücke zu analysieren.
Juul, ein syrischer Christ, gehörte zu den letzten, die vor zwei Tagen
einfach so hier ankamen, in einem Bus aus Belgrad an die Grenze und dann
weiter zu Fuß. Die Polizei registrierte die Migranten, danach strandeten
sie erst einmal in Tovarnik. Und Juul, der nun eine Zigarette raucht,
erfuhr nicht mehr, als dass es jetzt irgendein Problem in Kroatien gebe.
Was für ein Fortschritt ist es dagegen, in dieser Reihe zu stehen und zu
warten, bis es nun bald weitergeht, „vielleicht in drei Stunden“. Selbst
wenn die Polizisten keine Angabe über das Ziel machen.
Zweifellos ist das ein Paradox: Da besuchen internationale Medien tagelang
dieses Städtchen von zweieinhalb Tausend Einwohnern, und machen es zu einem
der fettgedruckten Orte auf der neuen Landkarte der Migrantengeografie
Südosteuropas. Diejenigen aber, um die es geht, verstehen die Zusammenhänge
nicht, die für ihr Vorwärtskommen oder Steckenbleiben den Ausschlag geben.
„Es kommt mir vor”, sagt ein Syrer, „als gebe es einen Wettbewerb zwischen
den Ländern: Wir sind besser als ihr, wir lassen die Flüchtlinge
weiterziehen.”
Gegen halb drei hat sich die Warteschlange niedergelassen und erwartet den
nächsten Morgen, wenngleich ohne feste Information über einen weiteren
Transport. Dicht aneinandergedrängt liegt es sich ein wenig wärmer, einige
sind auch im Sitzen eingeschlafen. Wer noch wach ist, bekommt von
Freiwilligen Kekse und Datteln. Im Essenszelt gibt es noch Obst und
Baguette. „Kannst du eine Decke und eine Isomatte auftreiben, wir haben
hier eine schwangere Frau”, fragt ein Helfer einen Kollegen.
Wie viele hier anpacken, weiß niemand, aber so volatil die Krise in diesen
Tagen ist, so verlässlich steuert der internationale Treck ihre
neuralgischen Punkte an: Röszke und Horgoš, das Zeltlager in Belgrad,
Tovarnik.
## Ein Kälteeinbruch steht bevor
Aus dem ungarischen Pécs sind am Abend gleich 12 Medizinstudenten
angekommen. Darunter ist auch Benedikt Kleinsässer, 23 Jahre alt. Die
nächsten zwei Wochenenden hat er auch schon eingeplant. Erschwert wird im
Übrigen auch die Anreise der Helfer, die wegen geschlossener Grenzen zum
Teil lange Umwege fahren müssen. Ihm macht eine klimatische Besonderheit
Sorgen: Es ist hier in diesem Teil von Europa lange warm. Aber dann wird es
plötzlich sehr kalt. In ein paar Wochen wird das der Fall sein.“
Weit hinter der Fabrik beginnt der zweite Teil des Camps, gegen den sich
der erste in all seinem Elend beinahe idyllisch ausnimmt. Ein Zelt steht
zwischen Müllsäcken und einem Polizeimannschaftswagen, davor wieder Müll,
Schuhe und eine steinumrandete Feuerstelle. Stillleben entlang der
Balkanroute. Entlang der Schienen ziehen sich viele weitere Zelte am
Bahnhofsgebäude vorbei bis zu einem Schuppen. Längst nicht allen, die hier
Zuflucht suchen, bietet er Platz, und so liegen schlafende Gestalten dicht
gedrängt auf einer schmalen, vorgelagerten Betonreling.
Auch auf und zwischen den Schienen liegen Menschen. Hier und da brennt ein
Feuer. Die grellen Lichtmasten lassen die Szenerie gespenstisch erscheinen.
Vor dem Schild, das den Bahnhof Tovarnik ankündigt, wehen eine kroatische
und eine EU-Fahne – wie ein sarkastischer Verweis darauf, dass die Länder
entlang der Balkanroute sich zuletzt gegenseitig vorwarfen, mit einer
entgegenkommenden Behandlung der Migranten in Brüssel gutes Wetter machen
zu wollen – für ihre angestrebte EU-Mitgliedschaft.
Unterdessen ist spät in der Nacht eine neue Gruppe eingetroffen. Sie
bestätigen ein Gerücht, das zuvor schon die Runde machte: Die grüne Grenze
ins knapp zwei Kilometer entfernte Šid, am Abend noch unpassierbar, soll
geöffnet worden sein. Essensstand und Deckenausgabe seien umgehend
betriebsbereit, und auf den freien Plätzen zwischen den Schlafenden werden
kurz vor der Dämmerung noch ein paar neue Zelte aufgestellt.
## Die Angst, den Zug zu verpassen
Gegen sechs Uhr zeigt der Himmel über dem Bahnhof von Tovarnik erste
Konturen. Zwei Freunde aus Erbil, die soeben aus Serbien ankamen, haben
schon zwei Nächte lang nicht geschlafen. „Wenn ich die Augen zumache, liege
ich sofort hier auf den Schienen”, sagt einer. „Aber dann verpasse ich den
Zug.“ Den haben die Polizisten soeben für neun Uhr angekündigt. Ob er nach
Slowenien fährt oder nach Ungarn, wissen sie nicht. Klar ist: Dahinter
liegt nemsa, wie Syrer und Iraker Österreich nennen. Sobald es hell ist,
beginnt das Packen.
Ein neuer Tag, eine neue Etappe, ein neuer Versuch im Vabanquespiel, sich
einen Weg durch den Irrgarten sich öffnender und schließender Grenzen zu
bahnen. Danach beginnt das Warten. Am Vormittag hat sich weder ein Bus noch
der Zug blicken lassen. Ein Syrer, fertig zum Aufbruch, übt sich in Geduld.
„Es ist nicht so, dass wir nicht dankbar sind. Wir bekommen Essen und ein
Dach über dem Kopf.“ Das „aber“ schwingt in der Stimme mit und bleibt in
zwei gedehnten Mundwinkeln hängen.
21 Sep 2015
## AUTOREN
Tobias Müller
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