# taz.de -- Folgen eines Suizid-Versuchs: In zu kleinen Schuhen stecken | |
> Viktor Staudt springt vor den Zug. Er springt zu früh, stolpert, fällt, | |
> die Beine auf dem Gleis. Heute sitzt er im Rollstuhl und übt das | |
> Überleben. | |
Bild: „Ich bin kein Missionar der Lebensbejahung“, sagt Viktor Staudt. | |
Viktor Staudt schwimmt. Kraftvoll teilt er das Wasser, krault sich durchs | |
25-Meter-Becken im Schwimmbad von Pianoro, einer Kleinstadt bei Bologna, | |
schiebt den linken Arm vor, den rechten, rhythmisch, gleichmäßig, eine | |
Bahn, noch eine Bahn, fünfzig Bahnen, mehr. Schwimmend spürt er seinen | |
Körper vollkommen, schwimmend fühlt er sich ganz. Nur dieses Gefühl, dass | |
seine Füße in zu engen Schuhen stecken, lässt ihn auch im Wasser nicht los. | |
„Schuhe, zwei Nummern zu klein.“ | |
Staudt ist laut. „Ciao“ ruft er jedem zu, als stünde er nicht vor ihm, | |
sondern auf der anderen Seite der Straße. An der Kasse des Schwimmbads: | |
„Ciao carissima“ – Liebste. Und ist er drin, in der Halle, auf der | |
Terrasse, an der Bar: „Ciao Luca“, „Ciao Francesco“, „Ciao Riccardo�… | |
Schwimmmeister, tätowierte Kerle. Sie grüßen zurück, öffnen ihm die | |
Absperrgitter, damit er durchkommt mit dem Rollstuhl, stellen ihm die Liege | |
auf. | |
Jeden Tag geht Staudt schwimmen. Jeden Tag fährt er mit dem Rollstuhl ans | |
Becken vor die Startrampe, dort, wo die Bahn reserviert ist für | |
Langsamschwimmer – „corsia per andatura lenta“ – obwohl er doch schnell | |
schwimmen kann. Er schwingt seinen Körper aus dem Rollstuhl auf die Rampe, | |
klettert leicht und mit einer tanzenden Drehung zum Beckenrand, von da | |
rollt er ins Wasser. Staudt hat keine Beine. Über den Knien abrasiert von | |
einem Zug. | |
„Ich habe mich umgebracht und lebe“, sagt er. „Ein Pyrrhussieg.“ | |
Dass er sich vor den Zug werfen könnte, wenn die Angst- und Panikattacken | |
nicht mehr aufhören, das wusste er lange. Er kannte die Stelle: den | |
Bahnsteig Amsterdam-Rai, vorne zwei Bänke. Auf einer saß er. Am Bahnhof | |
stieg er ein, wenn er zur Arbeit ging – angestellt bei einer | |
Fluggesellschaft. Er kannte den Schnellzug, der dort durchfuhr, von | |
Amersfoort zum Flughafen Schiphol. Er kannte die Uhrzeit. „Ich habe mir | |
über andere Todesarten keine Gedanken gemacht.“ | |
## Die Einsamkeit der letzten Stunden | |
Am 12. November 1999 springt er. Er springt zu früh, stolpert, fällt, | |
bricht sich den Arm, der Zug rast über ihn, die Beine auf dem Gleis. Ein | |
Schmerz. So tief. Unauslöschbar. Er weiß, dass er noch lebt. Dann weiß er | |
es nicht mehr. Er ist 30 Jahre alt. | |
Der 12. November 1999 in Amsterdam. Es ist windig, bewölkt, kühl. Morgens | |
war er im Fitnessstudio. Sport soll bei Depression helfen. Später, daran | |
erinnert er sich, füllte er eine Banküberweisung aus, zahlte ein Darlehen | |
zurück. Er sagt, „wenn ich es jetzt erzähle, ist es, als hätte ich es in | |
einem Film gesehen.“ Alles Fiktion. Und er sagt: „Wenn es so weit ist, gibt | |
es nichts anderes mehr.“ Es fühle sich an wie Lampenfieber, kurz bevor sich | |
der schwere Vorhang hebt. „Erst wenn man losgelassen hat, kann man das | |
machen.“ An den Lokführer habe er nie gedacht. „Es klingt krank, aber es | |
ist krank.“ | |
Er erinnert sich, wie er die Tür zu seiner Wohnung in der Hemonystraat 23 | |
hinter sich zuzieht, grün mit rundem Knauf, wie er das Fahrrad nimmt, durch | |
die Stadt fährt zum Bahnhof. „Ich habe den Wind im Rücken gespürt.“ | |
Unterwegs kauft er eine Flasche Wodka, trinkt einen Schluck. Aber wenn er | |
sich an etwas vor allem erinnert, ist es die Kälte, die Einsamkeit. „Die | |
absolute Einsamkeit der letzten Stunden und Tage, und das ist so kalt, da | |
gibt es keine Wörter, keine Musik.“ | |
Ob er bedauert, dass er nicht tot ist? | |
„Ja.“ | |
## Nur draußen war es farbig | |
Im Schwimmbad schreien Kinder, flirten Mädchen in pinkfarbenen, neongrünen | |
Bikinis mit Jungs, deren Lässigkeit sie weich sein lässt in den Knien. Wenn | |
Kinder ihm im Weg stehen, wird er unruhig. „Bitte“, sagt er hart und laut. | |
Die zucken zurück, schauen ihm ins glatte Gesicht, auf den geschorenen | |
Kopf, starren auf seine Beine und wieder in sein Gesicht. Sie gehen zur | |
Seite. Eigentlich mag er ihre neugierigen Blicke. Manche fragen: „Wo sind | |
deine Beine?“ | |
Staudt sitzt an der Bar unter Sonnenschirmen. Davide kommt vorbei, auch er | |
im Rollstuhl. „Ciao Davide.“ Mit ihm spricht er leiser. Worüber? Va bene, | |
si, dass das Wetter toll ist, dass er Besuch hat. Später sagt er: „In | |
Italien ist der Umgang mit Behinderten besser.“ Besser als in Deutschland, | |
wo er zehn Jahre in der Nähe von Heidelberg lebte. Besser als in Holland, | |
wo er geboren ist. Sein Vater mit deutschem Vater. Seine Mutter mit | |
jüdischem Vater. Sein Großvater hat Theresienstadt überlebt und nie darüber | |
gesprochen. Aber das erklärt nichts. Es erklärt nicht, warum Viktor Staudt, | |
als er in die Schule kam, begann, alles in Schwarz-Weiß zu sehen. Nur | |
draußen war es farbig. Drin schwarz-weiß, draußen farbig, das war Realität. | |
Er müsse, meinte er, nur mit der Schule fertig sein, dann werde es wieder | |
bunt. Einmal soll die Lehrerin seine Mutter bei einem Elternabend gefragt | |
haben, ob Viktor auch lachen könne. | |
Als er Abitur hat und die Welt hätte farbig werden sollen, beginnt er zu | |
stottern. Er meint: richtig stottern, kein Wort mehr herausbringen. „Das | |
Stottern“, sagt er, „hat nie mehr aufgehört“, obwohl es jetzt nicht mehr… | |
hören ist, wenn er spricht. Er stottere innerlich. Danach kamen die Angst-, | |
die Panikattacken, die Schweißausbrüche, das Gehetztsein. „Viktor | |
schmilzt“, soll ein Freund einmal gesagt haben, als er neben ihm im Auto | |
saß. Natürlich, er sucht Hilfe, geht zum Arzt, „Es wird schon“, das sei so | |
ein Satz. Ja, es wird schlimmer. | |
Als Sie aufwachten im Krankenhaus, gab es da Gegenwart? | |
„Nein.“ | |
## Altes Leben, neues Leben | |
Er wacht auf, und es ist der 13. November. Die Eltern stehen am Bett. Sie | |
weinen. Vor Freude und Schmerz. Froh, dass sie ihn haben, traurig, wie. | |
Jemand sagt ihm, dass er keine Beine mehr hat. Das wird die Zäsur, an der | |
sich Vergangenheit und Gegenwart scheiden. Er kommt aus der Vergangenheit, | |
er rechnet zurück: Vor 72 Stunden konnte ich noch gehen, vor einer Woche, | |
vor drei Monaten. Oft träumte er, er jogge durch den Vondelpark. Das | |
Aufwachen? „Schrecklich“, weil er nicht weiß, was Wirklichkeit ist. War das | |
mit Beinen der Traum oder das ohne? Er wagt es nicht, die Decke zu heben. | |
Er spürt seine Beine ja. Nur dass sie in zu kleinen Schuhen stecken. Es ist | |
der Phantomschmerz. Man gibt ihm Tilidin – ein synthetisches Opiat. Es | |
macht ihn taub. Später setzt er es ab von einem zum nächsten Tag, lebt nun | |
mit dem Schmerz und denkt über noch sicherere Todesarten nach. | |
Irgendwann habe es doch Gegenwart gegeben. Als er aus dem Krankenhaus | |
entlassen wurde, dachte er, er ginge zurück in die Welt, die er am 12. | |
November verlassen hat. Musik aus „Sunset Boulevard“ kommt ihm in den Kopf. | |
„Ich kenne mich aus, ich bin wieder da, as if we never said goodbye.“ Er | |
singt das Lied jetzt im Schwimmbad. Amsterdam, die Geräusche, die Gerüche – | |
ihm so vertraut. Aber dann macht es ihn unsicher, dass er auf ein altes | |
Leben zugeht, das seins ist und doch nicht. Das Haus, in dem er gewohnt | |
hatte, kam ihm, erzählt er, nun schöner vor, als es je war. Oh, das Haus, | |
steht es nicht symbolisch fürs Ich? Ist der Viktor ohne Beine der schönere | |
Viktor? Er verneint. „Ich habe mich in meiner alten Wohnung wohlgefühlt, | |
aber ich bin trotzdem dort gestorben.“ | |
Nach dem Krankenhaus ist alles neu, das Apartment, das Auto, er lernt neu | |
sich zu bewegen, sich zu orientieren, zu gehen. Er geht auf Prothesen, aber | |
da die Knie fehlen, braucht er Krücken dazu. Drei Jahre kämpft er damit, | |
bevor er es lässt und den Rollstuhl nimmt. Da häutet sich die Vergangenheit | |
und er kommt der Gegenwart näher. In der Zeit hört er auch auf zu sagen, er | |
hätte einen Motorradunfall gehabt. | |
## Die gleichen Fragen | |
Und nun also Pianoro, das Schwimmbad, die Kumpelhaftigkeit der Bademeister, | |
das Hallo. Wenn er mit jemandem spricht, hievt er sich vom Rollstuhl auf | |
den Stuhl am Tisch. Vom Oberkörper her ist er dann ein Gleicher. Einer mit | |
lautem Optimismus, der mit seiner Stimme umarmt und Antidepressiva nimmt. | |
Als er die einmal absetzte, kamen die Angstattacken zurück. | |
Am Schrank in seiner Wohnung lehnt eine gerahmtes Graffito: „Het spijt me. | |
Lees dit op een mooie dag, Viktor“ – „Es tut mir leid. Lesen Sie dies ein… | |
schönen Tages“, steht darauf. Noch in der Halbwirklichkeit nach dem Sprung | |
schrieb er es für den Polizisten, der ihn im Krankenhaus besuchte. Der ließ | |
es rahmen und gab es ihm zurück. Nun steht es in Staudts Wohnung gegenüber | |
dem Sofa mit den vielen Plüschtieren. Er kann sich nicht entscheiden, es | |
aufzuhängen. | |
Auf der Buchmesse in Bologna, wo er einen Kinderbuchverlag vertrat, kam ihm | |
die Idee, in Italien zu leben. Er fand Pianoro, fand Freunde und Zeit zum | |
Schreiben. „Die Geschichte meines Selbstmords“ heißt das Buch. Mit dem ist | |
er viel unterwegs – „nicht als Missionar der Lebensbejahung“. Als was dan… | |
Er will antworten, kommt nicht dazu, denn über die Schwimmbadlautsprecher | |
singt Marco Mengoni, der schwul sein soll wie er, seinen Hit „Essere umani“ | |
– menschliche Wesen. „Ich liebe dieses Lied“, sagt Staudt. Er singt mit, | |
wiegt seinen Oberkörper im Takt. „Erst wenn du weinst, weißt du, wer du | |
bist“, übersetzt er. | |
Auf Lesereisen werden ihm, erzählt er, oft die gleichen Fragen gestellt: | |
Wie das Leben in zehn Jahren aussieht? | |
Und, was antworten Sie? „Ich denke darüber nicht nach.“ | |
Ob glauben hilft? | |
„Manchen schon.“ | |
Ob er eine Freundin habe? | |
„Ich kann keinem zumuten, mit mir zusammenzuleben.“ | |
Der Frage aber, die immer kommt: Sind Sie jetzt glücklich?, weicht er | |
sicher aus. | |
NaN NaN | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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