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# taz.de -- Der Entschluss zu sterben: Ein großes Fest noch
> Ingrid Sander litt an Kinderlähmung und sitzt im Rollstuhl. Sie will
> sterben, bevor es unerträglich wird oder der Bundestag sie daran hindert.
Bild: „Nichts ist schlimmer, als aus dem Tod ein Tabu zu machen“, sagt Ingr…
Das Versprechen, das Ingrid Sander sich gegeben hat, ist nun bald siebzig
Jahre her, es lautet: nicht mit mir.
Sie war acht oder neun, ein neugieriges, furchtloses Mädchen, trotz der
schlimmen Krankheit, trotz des Virus, das ihre Arme und Beine lähmte, Ende
der 40er Jahre. Wieder einmal musste sie in die Klinik in Erfurt. Die
Schwestern hatten ihr Anweisungen erteilt. Nicht aufstehen. Nicht das
Zimmer verlassen. Nicht auf eigene Faust irgendwo hingehen. Aber auf solche
Verbote konnte sie keine Rücksicht nehmen. Kaum dass die Ärzte ihre
schwachen Beine wieder ein wenig mobilisiert hatten, zog sie los. Ingrid
Sander litt an Kinderlähmung, einer Krankheit, die heute weitgehend
ausgelöscht ist, weil es einen Impfstoff dagegen gibt.
Als sie auf den Krankenhausflur trat, sah sie, was sie als Kind besser
nicht sehen sollte: Alte, auf dem Gang zur Toilette gestürzt. Sterbende,
die um Beistand schrien bis zur Heiserkeit. Kranke, brüllend vor Schmerz,
scheinbar vergessen in ihren Betten. Hilfe holen. Ein kindlicher Reflex.
Doch diejenigen, die helfen sollten, konnten sich nicht kümmern um so viele
Bedürftige gleichzeitig.
## „Lass ihn liegen“
Deutschland hatte wenige Jahre zuvor den Krieg verloren, es mangelte an
allem. Und so trafen Menschen, die Leiden lindern sollten, Entscheidungen.
Entscheidungen, die nicht für kindliche Ohren bestimmt waren: Lass ihn
liegen, der gibt sowieso bald den Löffel ab. Lass sie schreien, die kriegt
doch gar nichts mehr mit.
Nicht mit mir, dachte sie.
„Vor dem Tod habe ich seitdem keine Angst mehr. Aber ich habe Angst vor dem
Krepieren. Und dagegen habe ich – für mich –Vorkehrungen getroffen“, sagt
Ingrid Sander. Jetzt muss sie aber fürchten, dass ihr Plan nicht aufgeht.
Dann nämlich, wenn der Bundestag beschließt, Sterbehilfe-Vereine zu
verbieten.
Es ist ein Nachmittag Mitte Juni in Erfurt, bald sieben Jahrzehnte sind
vergangen seit Ingrid Sanders heimlichen Erkundungen im Krankenhaus. Sie
ist eine wache und vergnügte Frau mit weißen Haaren, gefangen in einem
Körper, den sie zunehmend schwerer steuern kann. Mit dem Rollstuhl bugsiert
sie sich aus ihrer Küche ins Wohnzimmer.
## Aufs Gleis legen geht nicht
Sie atmet tief durch, alles ist beschwerlich, doch es ist einer der
besseren Tage: Die Muskeln krampfen, die Nerven spielen verrückt, aber die
Schmerzen sind erträglich, sie beherrschen nicht ihr Leben wie an anderen
Tagen. Heute kann sie sprechen, sie hat türkischen Kaffee gekocht, und für
den nächsten Monat, sie wird 77, plant sie eine Party. Freunde und Bekannte
sollen Salate und Kuchen und Getränke mitbringen. Ingrid Sander wirkt nicht
wie eine, die sich nach dem Tod sehnt.
77 Jahre! Wer hätte gedacht, dass sie einmal so alt werden würde. „Ich
kämpfe zwischen dreckig und verwahrlost“, sie lacht, und dann, ernst: „Seit
ich die Sicherheit habe, sterben zu können, wann es mir passt, geht es mir
besser.“
Die Sicherheit. Der Beschluss, dass sie sich eines Tages selbst töten wird,
war keine spontane Entscheidung. Er ist über Jahre gereift, sie hat ihn
diskutiert, mit Freunden, mit ihren Kindern und Schwiegerkindern und auch
mit den zwei Männern, von denen sie sich später scheiden ließ.
„Nichts ist schlimmer, als aus dem Tod ein Tabu zu machen“, findet Ingrid
Sander. Heute ist sie sicher: Die Menschen, die ihr nahe stehen, haben
verstanden, worum es ihr geht – und respektieren das. „Ich bin kein Mensch,
der vor sich hin leidet. Und ich finde, dass ich ein Recht habe, über mich
selbst zu verfügen, wenn es unerträglich wird.“ Deswegen möchte sie gehen.
Wann genau, ist noch unklar. Aber dass sie ihren Todeszeitpunkt selbst
bestimmen wird, steht für Ingrid Sander fest – seit Jahren.
## Auf die Hilfe Dritter angewiesen
Nur wie das alles anstellen? Sander ist auf die Hilfe Dritter angewiesen.
Auch bei ihrem Suizid, das weiß sie, wird es so sein. „Oder glauben Sie,
ich könnte im Rollstuhl mal eben so auf eine Bahnschiene fahren und auf den
nächsten Zug warten?“ Sie hat darüber gesprochen, mit ihrem Hausarzt. Aber
der wollte nichts davon wissen. Mit ihrem Sohn. Aber der ist kein Arzt –
wie also soll er an die Medikamente kommen, die sicherstellen, dass sie
ohne Komplikationen aus dem Leben scheiden kann?
Als dann 2005 die Sterbehilfeorganisation Dignitas auch in Deutschland Fuß
zu fassen suchte, schöpfte Ingrid Sander Hoffnung: ein Verein, der
Suizidhilfe versprach. Nur der Weg in die Schweiz, wo die Selbsttötung
stattfinden sollte und die Kosten schreckten sie. Etwa 4.000 Euro, so
jedenfalls erinnert sie das, seien damals im Gespräch gewesen für die
Medikamente, die Ärzte, die vorausgehenden Gutachten, die Sterbebegleitung
selbst und später natürlich auch für das Krematorium – pro Person. Woher
dieses Geld nehmen?
1978, kurz vor ihrem 40. Geburtstag, hatten Ärzte in der DDR Ingrid Sander
wegen der Nachwirkungen ihrer Polio invalide geschrieben. Ihren Beruf,
Industriekaufmann, so nannte man das damals in der DDR, konnte sie nur noch
halbtags ausüben. Ihre Rente heute reicht kaum für die laufenden Kosten.
Ingrid Sander beschloss, Vereinsmitglied bei Dignitas zu werden; für sie
als sogenannter sozialer Härtefall entfallen die Mitgliedsbeiträge. Zwei
weitere Jahre brauchte sie, bis sie 2007 Christian Arnold, den Arzt aus
Berlin, der seit Jahren für eine Liberalisierung der Sterbehilfe eintritt
und sich vorübergehend im Vorstand von Dignitas Deutschland engagiert
hatte, persönlich kennenlernte. „Als Erstes habe ich ihn gefragt, was es
kostet“, erinnert sich Ingrid Sander. „Aber Herr Arnold will kein Geld, gar
keins.“ Es wundert sie bis heute.
Stattdessen folgten Gespräche; mitunter zweimal pro Woche besuchte Arnold
sie, manchmal brachte er seine Frau mit. Er habe nie versucht, ihr etwas
einzureden, sie zu beeinflussen in ihrer Entscheidung, aber er wollte ihre
Gründe verstehen und sicherstellen, dass der Wunsch zu sterben einzig ihr
freier Wille ist. „Ich habe ihm dann gesagt, dass ich nicht sofort sterben
will, aber dass der Zeitpunkt kommen wird.“
## Leben so lang wie möglich
Sie wünscht sich, dass, wenn es so weit ist, Christian Arnold zu ihr nach
Hause kommt; die Kinder und die Freunde sollen auch dabei sein. „Ich stelle
mir das so vor, dass wir dann noch zusammen essen und trinken –und ich dann
den Medikamentenmix trinke und einschlafe.“
Das ist ihr Plan – seit acht Jahren schon. Acht Jahre Leben, an die sie
sich gern erinnert, auch weil Christian Arnold, der Arzt, mittlerweile
selbst jenseits der 70, regelmäßig Kontakt zu ihr gehalten hat. Er hat ihr
einen Computer besorgt, damit sie nicht abgeschnitten ist von der Welt. Er
hat ihr ein Pflegebett samt Daunendecke organisiert, die sie selbst nicht
bezahlen konnte. Manchmal bringt er ihr Aufbaumittel, die die Kasse nicht
erstattet. „Er tut alles, damit ich noch ein bisschen länger lebe“, sagt
Ingrid Sander.
Die Ärztekammer Berlin, zuständig für das ärztliche Berufsrecht, sah das
anders. Im Fall einer anderen Patientin, die Christian Arnold begleitete,
wollte sie dem Mediziner 2007 verbieten, der Frau die todbringenden
Medikamente zu überlassen. Der nachfolgende Rechtsstreit wurde 2012 vor dem
Verwaltungsgericht Berlin entschieden – zugunsten Arnolds.
## Zynismus, Entrechtung, Sadismus
Die Ärztekammer habe kein Recht, ein „Verbot für ein Verhalten
auszusprechen, dessen ethische Zulässigkeit auch innerhalb der Ärzteschaft
äußerst kontrovers diskutiert wird und dessen Verbot in diesen
Ausnahmefällen intensiv in die Freiheit der Berufsausübung des Arztes und
seine Gewissensfreiheit eingreift“, stellte das Gericht fest. Heute ist
Arnold pensioniert und betreut nur noch eine Handvoll Patienten, die er in
den Tod begleiten will.
Doch nun drohen erneut Sanktionen, gesetzliche, möglicherweise sogar
strafrechtliche Verbote – nicht nur Christian Arnold, sondern allen
Sterbehelfern in Deutschland. Ingrid Sander verfolgt seit Monaten die
Debatte unter den Parlamentariern um die gesetzliche Neuregelung der
Suizidhilfe. Zynismus. Emotionale Brutalität. Entrechtung. Sadismus. Das
sind die Worte, die ihr zur Kommentierung einfallen. Dass sich andere
herausnehmen, beurteilen zu können, welches Maß an Leid für sie erträglich
sein soll, findet sie unerhört.
„Manchmal überlege ich voller Frust, ob ich es mache, bevor die das alles
beschließen im Bundestag“, sagt Ingrid Sander. „Ich will ja nicht, dass
jemand wegen mir ins Gefängnis muss.“ Aber da ist noch ihr 77. Geburtstag.
Und der Sommer, der sich so schlecht nicht anlässt, als dass es sich lohnen
würde, auf ihn zu verzichten.
28 Jun 2015
## AUTOREN
Heike Haarhoff
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Sterbehilfe Deutschland
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Selbstbestimmung
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