# taz.de -- Porträt Marina Weisband: Ausatmen und Einatmen | |
> Die frühere Piraten-Geschäftsführerin zog sich zurück, um wiederzukommen. | |
> Wie sie das tun will, ist unklar. Das Ziel aber steht fest: Die Welt | |
> retten. | |
Bild: Sie will Probleme „von der Seite sehen“: Marina Weisband, Ex-Piraten-… | |
Hätte ich [1][Marina Weisbands Webseite] vor dem Treffen mit ihr angeklickt | |
und dort ihre Zeichnungen entdeckt, wäre mir mehr als das künstlerische | |
Talent der ehemaligen Chef-Piratin aufgefallen. Die Bilder enthüllen etwas | |
von ihrem Blick auf die Welt. Es sind vor allem melancholisch-träumerische | |
Frauenporträts, die sich gut als Illustrationen für Fin-de-Siècle-Literatur | |
eigneten. Selbstbilder? Ist sie etwa eine verkappte Romantikerin? | |
Die junge Frau im leichten Kleid, die abgehetzt und heftig atmend das | |
Münsteraner Café betritt, das sie als Ort für unser Gespräch ausgewählt | |
hat, scheint freilich aus ganz anderem Holz geschnitzt. Sorry, sagt sie | |
entschuldigend. Sie habe sich einen falschen Termin notiert. Normalerweise | |
sei sie immer fünf Minuten früher da als abgemacht. | |
Während sie bei einem Cappuccino ausschnauft, erzählt sie von dem Bild, an | |
dem sie gerade arbeitete, als ich sie anrief, um an unser Treffen zu | |
erinnern: ein „Gemälde mit 26 Personen“, eine Auftragsarbeit. Malen ist | |
eine ihrer Begabungen, einige Zeit habe sie mit dem Gedanken gespielt, | |
Kunst zu studieren. | |
Der Pegelstand der Tasse ist indes noch kaum gesunken, als sie über das zu | |
reden beginnt, was sie heute primär beschäftigt. Marina Weisband ist dabei, | |
ihre Qualifikation als Psychologin – sie hat das Studium in Münster vor gut | |
einem Jahr abgeschlossen – und die Erfahrungen in der Politik für ein | |
Vorhaben ganz neuer Art zu nutzen. Die kommenden Jahre wird sie an Schulen | |
in vier verschiedenen Bundesländern ein „demokratiepädagogisches Projekt“ | |
in „Liquid Democracy“ durchführen, finanziert von der Bundeszentrale für | |
politische Bildung. Die Software ist gerade in der Entwicklung. | |
## Eine Künstlerin der Rede | |
Sie ist gespannt darauf, was da möglich ist – nicht zuletzt, was sie selber | |
dabei lernen kann. Im Moment sehe sie sich in einer Phase, in der es darum | |
gehe, neue Erfahrungen zu sammeln. Nach der verausgabenden Zeit in der | |
Piratenpartei mit einer endlosen Folge von TV-Auftritten, öffentlichen | |
Stellungnahmen und Diskussionen seien jetzt Rückzug und Lernen angesagt. Es | |
ist „wie Ausatmen und Einatmen“, sagt sie. | |
Noch bei der eher unverbindlichen Anfangsplauderei wird mir Marina | |
Weisbands besondere Gabe deutlich: die Kunst der Rede. Nicht die der großen | |
Ansprache, der mitreißenden rhetorischen Meisterleistung, sondern der | |
einprägsamen, unauffällig wirkenden Formulierung. Sie kann so klar und | |
zugleich unprätentiös sprechen, dass man ihr unwillkürlich folgt. | |
Alles, was sie sagt, scheint zweifelsfrei, zivil und unfanatisch. Marina | |
Weisband hat die Fähigkeit, durch Sprechen zu überzeugen. Dies nicht | |
zuletzt, weil sie die Dinge, die ihr am Herzen liegen, mit der | |
erstaunlichen Mischung aus beinahe kindlichem Charme und erwachsener | |
Entschlossenheit vorzutragen weiß. | |
## Eine Neigung zu Unsicherheit | |
Mit einem solchen Auftritt hat auch ihre politische Karriere begonnen. Als | |
es 2011 um die Wahl der politischen Geschäftsführerin der Piratenpartei | |
ging, wurde sie, die damals völlig Unbekannte, von Freunden vorgeschlagen | |
und auf die Bühne gehievt. Da stand sie nun mit den anderen Kandidaten – | |
und redete; machte ihre Gedanken darüber öffentlich, wie sie sich den Job | |
vorstellte – so einfach, klar und eindringlich, dass sie gewählt wurde. | |
[2][Damals war sie 23.] | |
Seither hat sie viele Bühnen erobert. Was immer noch und immer wieder mit | |
Angst verbunden sei. „Ich neige zur Unsicherheit“, sagt sie so sicher, dass | |
ich mich beinahe an meinem Milchkaffee verschlucke. Wenn sie aber einmal | |
die Bühne betreten und das Lampenfieber überwunden habe, liebe sie den | |
Auftritt. „Ich komme vom Theater“, fügt sie an. Theater ist, neben der | |
Malerei, eine ihrer Leidenschaften. Jüngst hat sie zudem eine Frauen-Band | |
gegründet, die selbst fabrizierte „zynische Lieder“ zum Besten gebe. | |
Ob ihr heute, da sie nach ihrem Rückzug aus der großen Politik bei solchen | |
Auftritten weniger gefragt sei, etwas fehle? Ihre Antwort überrascht. Genau | |
das hätte sie sich gefragt, als sie 2011 den Öffentlichkeits-Tsunami auf | |
sich zurollen sah: Würde ihr hinterher etwas fehlen? | |
Antizipation von Verlusten: das klassische Mittel der Ängstlichen und | |
Vorsichtigen. Sie habe immer viel, zu viel gedacht, sagt Weisband. Sie | |
neigt zum Grübeln, zum Ausmalen von Worst-Case-Szenarien – eine | |
lebenslange, eng mit ihrer Geschichte verbundene Verhaltensweise. Mit sechs | |
Jahren kommt sie als Kontingentflüchtling aus der ehemaligen UdSSR: ein | |
„Tschernobylkind“, von tödlicher Krankheit gezeichnet. In der Ukraine hät… | |
sie wahrscheinlich keine Chance zum Überleben gehabt. | |
## Zwischen den Stühlen | |
Aber die Landung im Westen ist hart. Sie erzählt die Geschichte ihres | |
ersten Schultags: alleingelassen, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen, ohne | |
Schultüte. Ohne nichts. Schnell beginnt sie, das „Selbstbild der Fremden“ | |
bewusst anzunehmen. Bald trennen sich die Eltern, sie bleibt bei der | |
Mutter, mit Einsamkeitsgefühlen. Als ich Zeichen von Mitgefühl absondere, | |
reagiert sie cool: Man müsse kein Drama daraus machen, es gab damals | |
immerhin doch bald Freunde und Unterstützung. Der wahre Horror sei die | |
anschließende Adoleszenz gewesen: Gothic in Wuppertal. Sie mag darüber | |
nicht reden. | |
Ihr angestammter Platz sei wohl der zwischen den Stühlen. Immerhin, daraus | |
entstünden interessante Perspektiven: die Chance, Probleme „von der Seite | |
zu sehen“. Alles, was sie über ihr Leben sagt, klingt nach dieser | |
„Seitenperspektive“: der Idee – oder dem Zwang? –, einen neuen, unerpro… | |
Weg einzuschlagen. Als Erste ihrer Familie lebt sie ihr Jüdischsein. Nicht | |
orthodox, aber gläubig. Glauben, das war für sie als Kind eine große | |
Verlockung: das damit gegebene Grundvertrauen, die Sicherheit, nicht allein | |
zu sein. | |
Und dann berichtet sie von einem Erweckungserlebnis: eine Art Tagtraum vor | |
einer Matheprüfung, in dem sie den Tod Andrej Bolkonskijs in Tolstois | |
„Krieg und Frieden“ buchstäblich miterlebt: die Granate, sein Fallen, die | |
weggerissene Hüfte, die Unmöglichkeit, auch nur noch den Arm zu heben. Was, | |
wenn nichts mehr geht, nicht einmal, den Arm zu heben? Sie empfindet diese | |
Todesfantasie als ein ungeheures Zugehörigkeitserlebnis zum Leben. Das, wie | |
sie sagt, „sehr eng mit Glauben, mit Gott verbunden war“. | |
Es klingt in meinen Ohren sehr russisch, nach 19. Jahrhundert, der Zeit | |
ihrer Lieblingsautoren: Dostojewski, Lermontow, Heine. Und es klingt echt. | |
Wie eine Liebeserklärung ans Leben, aus der Perspektive einer | |
Todeskandidatin. Tatsächlich war ihr Tod eine Zeit lang wahrscheinlicher | |
als das Überleben. In der Ukraine hat sie ihre Mutter gefragt, ob sie nach | |
ihrem Tod zu Gott komme. Die Frage einer Vierjährigen aus einer | |
atheistischen Familie in der Sowjetunion. | |
## Zurück in die Politik | |
Der Tod bildet in Marina Weisbands Leben eine Art negatives Kraftfeld. Der | |
Gedanke an ihn treibt sie voran, zwingt sie zu dauernder Anstrengung. „Wenn | |
ich abschalte, werde ich depressiv“, sagt sie – und fühlt sich deshalb am | |
wohlsten im Zustand einer ständigen leichten Überforderung. Das sei ja | |
anerkanntermaßen auch das Optimum fürs Lernen. | |
Dieser Antrieb wird ebenso wenig erlahmen wie Weisbands Wunsch, gehört zu | |
werden, Einfluss zu nehmen. Auch dies ist für sie eine Angelegenheit von | |
Leben und Tod. Sie wird deshalb gewiss in absehbarer Zeit wieder die | |
politische Bühne betreten. Nur: wie und wo? | |
Ganz oben auf ihrer persönlichen Agenda steht neben dem bedingungslosen | |
Grundeinkommen eine Reform des Bildungswesens. Würde sie sich denn zum | |
Beispiel den Zukunftsposten einer länderübergreifenden Bildungsministerin | |
zutrauen? Sie zuckt mit den Achseln: Zweifel an der Fähigkeit, sich | |
blitzschnell in komplexe Sachverhalte einzuarbeiten, sind ihr fremd. | |
## Die Welt retten | |
Marina Weisband ist 27 Jahre jung – und schon eine Art Fossil. Sie steht | |
für einen parteipolitisch auf Sicht [3][gescheiterten Versuch, Politik neu | |
zu erfinden]. Und zugleich für den unbedingten Willen, ihre Vorstellungen | |
in die Realität zu bringen. Wo, frage ich, wird sie mit 40 stehen? Sie | |
zögert nur kurz. „Ich hab Kinder, ich tanze Tango, ich rette die Welt.“ | |
Kein Lächeln. | |
„Wo genau, wie genau ich die Welt rette …“ Sie hält inne. Klar, es ist | |
ironisch gemeint. Und todernst. Entweder, konkretisiert sie, sei sie in | |
irgendwelchen Alternativen tätig oder „doch in der Politik am Wuseln, | |
bewege diese riesigen Zahnräder – und ärgere mich“. | |
Ich empfinde den damit angedeuteten Gegensatz von positivem Engagement und | |
begleitendem negativem Gefühl nicht als Widerspruch. Er passt zu Weisband: | |
dazu, wie ein Teil ihres Lebens in einer abgelegenen Zeit und Kultur, im | |
19. Jahrhundert etwa, stattfindet, und der andere im Zentrum der neuesten | |
Kommunikationstechnologie. Marina Weisband steht für die Integration | |
solcher Widersprüche, die nicht weniger als den Wesenskern unserer | |
postmodernen Welt ausmachen. | |
Niemand erlebt sie wohl klarer als Menschen, für deren Lebensschicksal das | |
Monsterwort „Migrationshintergrund“ erfunden wurde. Nichts nötigt mehr zu | |
Kombinationen von Altem und Neuem, Traditionsbewusstsein und technischer | |
Avantgarde, Wunsch und Realitätssinn. Marina Weisband ist mit dieser | |
Konstellation groß geworden. Sie repräsentiert den Typus der | |
PolitikmacherInnen von morgen. Fast möchte man sagen: ob sie es will oder | |
nicht. | |
16 Sep 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.marinaslied.de/ | |
[2] /!5107278/ | |
[3] /Zerfall-der-Piratenpartei/!5032648/ | |
## AUTOREN | |
Christian Schneider | |
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