# taz.de -- Auszeichnung für Theaterprojekt: Pädagogik? Fehlanzeige | |
> Das Hamburger „Theater am Strom“ erzählt Kindern von Obdachlosigkeit oder | |
> dem Leben der Sinti. Jetzt wird die Ausdauer der Macherinnen belohnt. | |
Bild: Ungewöhnliches Kindertheater: Theater am Strom | |
HAMBURG taz | Es ist Mittagspause im „Tor zur Welt“, lärmend zieht eine | |
Gruppe Grundschüler an Christiane Richers Tür vorbei. Seit zwei Jahren sind | |
hier in Hamburg-Wilhelmsburg drei Schulen und eine Kita unter einem Dach | |
untergebracht, dazu eine Reihe außerschulischer Einrichtungen – auch | |
Richers kleines freies [1][“Theater am Strom“]. 2003 hat die Theaterautorin | |
und Regisseurin es gemeinsam mit der Schauspielerin Morena Bartels als | |
mobiles Theater für Kinder und Jugendliche gegründet. Etwas später stieß | |
noch die Schauspielerin Gesche Groth dazu. | |
Ein Theater so nah an den Schulen dran, das sei einzigartig, sagt Richers – | |
und eine große Chance: Die kurzen Wege machten es möglich, mit den Kindern | |
und Jugendlichen auf verschiedenen Ebenen zusammenzuarbeiten. Denn ins | |
Theater kämen Schulklassen, vor allem Grundschüler, immer seltener, erzählt | |
sie. Aber auch anspruchsvollere Stücke für ältere Kinder und Jugendliche | |
würden kaum nachgefragt. | |
Weil die Strukturen an den Schulen sich verändert hätten und alles | |
fachgebunden sei, glaubt Richers. Heute sei es ein großer organisatorischer | |
Aufwand für einen Lehrer, mit einer Klasse vormittags mal einen längeren | |
Weg ins Theater zu machen. Und für die Kinder sei eben wiederum der Weg zur | |
kurzweiligen Kultur am Smartphone ein kurzer. | |
Das sei einmal anders gewesen, erzählt Richers. Fünf Jahre lang hat sie am | |
Hamburger Jugendtheater „Klecks“ gearbeitet, bevor es 1990 geschlossen und | |
dann abgerissen wurde. 19 Jahre lang liefen dort Jugendstücke mit | |
politischem Anspruch: über Aids, Apartheid. Das sei gut gegangen, immer sei | |
es voll gewesen. Heute fehlten Strukturen, es mangele auch an einer Lobby. | |
Hinter der Tür zu den zwei großen Räumen des Theaters ist es still, dicke | |
Betonwände halten den Schultrubel draußen. Das Einzige, was manchmal störe, | |
sei die Schulglocke, sagt Richers beim Gang durch die beiden Stockwerke. | |
Genutzt werden die Räume nicht nur für eigene Projekte und Proben: Zweimal | |
in der Woche arbeitet das „Theater am Strom“ dort mit Schülern, bietet | |
Workshops für Lehrer an und überlässt den Raum obendrein einer | |
Stadtteiltheatergruppe. | |
Das Theater selbst ist mobil: Es gastiert auf nationalen und | |
internationalen Bühnen, arbeitet mit anderen Schulen zusammen, mit | |
Stadtteilzentren oder öffentlichen Bücherhallen zusammen. | |
Dass die Macherinnen deswegen oft als „Theatertanten“ missverstanden | |
werden, ärgert Richers: Das sei eine große Diskriminierung, denn oft seien | |
es Frauen, die so etwas machten. „Dann gibt es dieses Kindergartengefühl“, | |
sagt sie: „Die werden schon gut betreut. Da kann man nur eine Grenze ziehen | |
und sagen: Auf dieser Ebene bitte nicht mit uns reden.“ | |
Um Pädagogik geht es den drei Frauen vom „Theater am Strom“ nur am Rande, | |
im Zentrum steht die Beziehung, der Umgang miteinander, auch: die | |
Wahrnehmung. Und professionelle Theaterarbeit. Richers zeigt auf die | |
Lichtanlage über der Bühne, die die Kulturbehörde spendiert hat, damit die | |
Stücke, die hier aufgeführt werden, auch ins rechte Licht gerückt werden | |
können. | |
Und jetzt steht das kleine Theaterprojekt selbst einmal im Rampenlicht: Für | |
das jahrelange Engagement bekommt das „Theater am Strom“ nun den | |
Max-Brauer-Preis. Seit 1993 vergibt die Alfred-Toepfer-Stiftung den mit | |
20.000 Euro dotierten Preis – an Einzelpersonen und Einrichtungen, die das | |
kulturelle, wissenschaftliche oder geistige Leben Hamburgs prägen, so heißt | |
es. | |
Ausgezeichnet wurden in den vergangenen Jahren unter anderem das | |
transnationale Kunstprojekt Hajusom, Hamburgs Geschichtswerkstätten oder | |
auch Thalia-Intendant Joachim Lux. | |
„Mutig und zielstrebig“ nehme die freie Theaterformation | |
gesellschaftspolitische Themen auf und vermittele sie professionell, | |
begründet Michael Wendt vom Preiskuratorium die diesjährige Wahl. Außerdem | |
engagierten sich die Macherinnen „maßgeblich und richtungsweisend“ im | |
Struktur-Aufbau der Freien Szene und betrieben kontinuierlich | |
Netzwerkbildung. | |
Für das dreiköpfige Theaterteam ist diese Anerkennung wichtig. Richers | |
freut sich vor allem darüber, dass eine „kleine Form künstlerischer | |
Zusammenarbeit, die weitgehend von der Risikobereitschaft aller Beteiligten | |
getragen wird, in der Stadt öffentlich wahrgenommen und gewürdigt wird“. | |
Für einen gewissen Zeitraum sichtbar zu sein, das sei eine große Chance und | |
Motivation, ergänzt Gesche Groth: Die kontinuierliche Arbeit am Netzwerk | |
sei eben auch aus der Not geboren. Als freies Theater habe man dünne Wände | |
oder gar keine Wände, sagt Richers. Da könne man nur anfangen, das | |
konstruktiv zu nutzen und vernetzt zu arbeiten. | |
Auf klassisches Kindertheater setzt das „Theater am Strom“ in den letzten | |
Jahren immer weniger, auch wenn es weiterhin unterhaltsame, charmante | |
Kinderstücke wie „Gans der Bär“ ins Programm nimmt. Hinzugekommen sind vor | |
allem engagierte Kinderstücke und Stücke im öffentlichen Raum, die Richers | |
selbst schreibt. | |
Es sind Stücke wie „Im Herzen von Hamburg“, das sich aus der Perspektive | |
von Nicht-Sinti mit der Geschichte und Gegenwart der Sinti im Stadtteil | |
Wilhelmsburg auseinandersetzt; entstanden in enger Zusammenarbeit mit der | |
Familie Weiss entstanden ist, die dort seit über 100 Jahren lebt. | |
Beleuchtet werden darin neben Täterbiografien aus der Nazizeit auch | |
einzelne Schicksale aus der Nachkriegszeit sowie der jüngeren Gegenwart. | |
Auch die aktuelle Produktion „Immer weiter“ beschäftigt sich mit einem | |
gesellschaftspolitischen Thema. Es sind Stoffe, die Richers „erwischen“, | |
wie sie sagt. Immer wieder habe sie diese obdachlose Frau mit ihren acht | |
Einkaufswagen gesehen, lange habe sie mit Groth und dem Musiker Frank Wacks | |
dann recherchiert: Wie sieht die Stadt für diese Frau aus, welche | |
Erfahrungen macht sie? Wie fühlt, hört sich die Stadt für sie an, welchen | |
Takt hat ihr Alltag zwischen dem Café mit Herz, der Kemenate und dem warmen | |
Klo in der Michaeliskirche, dem „Hamburger Michel“? | |
Herausgekommen ist ein ungewöhnliches Kindertheaterstück, das | |
Dokumentation, einen eindringlichen Text, eine lärmende | |
Großstadtklangkulisse und Filmeinspielungen eindrucksvoll zusammenführt und | |
das Leben einer Obdachlosen auch für Kinder nachvollziehbar macht. Dafür | |
übrigens gibt es Anfang Oktober gleich den nächsten Preis für das „Theater | |
am Strom“: den Kindertheaterpreis der Hamburger Kulturstiftung. | |
16 Sep 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.theateramstrom.de/ | |
## AUTOREN | |
Robert Matthies | |
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