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# taz.de -- Freiberufler oder Scheinselbstständige: Solisten gegen die Sozialg…
> Freiberufler in der IT-Branche sammeln Unterschriften gegen die
> „Hexenjagd“ der Rentenversicherung auf „Scheinselbstständige“.
Bild: Das echte Prekariat unter Solo-Selbstständigen: Musiklehrerin mit ihrer…
BERLIN taz | Alexander Kriegisch ist selbstständiger IT-Berater, und das
mit Leidenschaft. „Ich möchte nicht angestellt sein“, betont der 44-jähri…
Informatiker aus dem bayerischen Höchstadt. „Ich bin Unternehmer.
Freiwillig. Die Deutsche Rentenversicherung sollte dringend ihre Kriterien
für Scheinselbstständigkeit überprüfen. Sie sind nicht mehr zeitgemäß.“
Kriegisch hat wie über 10.000 andere Selbstständige eine Petition des
„Verbandes der Gründer und Selbstständigen“ (VGSD) unterzeichnet. Der
Verband fordert einen „Schluss der Hexenjagd“ der Deutschen
Rentenversicherung gegen vermeintlich „Scheinselbstständige“. „Auch wer
fair bezahlt wird und gut fürs Alter vorsorgt, dem unterstellt die Deutsche
Rentenversicherung (DRV) mittlerweile Scheinselbstständigkeit“, so
Verbandsgründer Andreas Lutz, Diplom-Kaufmann und Solo-Selbstständiger in
München. Der Verband fordert „klare Kriterien“ für Selbstständigkeit, die
sich auch an den Arbeitsbedingungen seiner Klientel, vor allem
Wissensarbeitern, orientieren müssten.
Die Kriterien für „Scheinselbstständigkeit“ sind nämlich recht vage, und
das ist das Problem. Ein Kriterium für „Scheinselbstständigkeit“ besteht
darin, dass der Solo-Selbstständige eine Tätigkeit „nach Weisung“ ausfüh…
und in die „Arbeitsorganisation des Weisungsgebers“ integriert ist, so
Paragraf 7 des Sozialgesetzbuches IV. Viele selbstständige
Softwareentwickler, Coaches und Datenkaufleute, die für ein bestimmtes
Projekt und einen bestimmten Zeitraum von einer Firma eingekauft werden,
erfüllen diese Kriterien, ohne sich allerdings als „Scheinselbstständige“
brandmarken lassen zu wollen.
Es liege an den Gegebenheiten der Branche, dass man sich während der
Projektdauer in das EDV-System des Auftraggebers einklinken müsse, dass man
vor Ort sein und sich an den Arbeitszeiten des festangestellten Personals
orientieren müsse, um kommunizieren zu können, schildert Lutz die
Situation.
Kriegisch zum Beispiel arbeitet als Projektmanagement-Coach in Firmen vor
Ort, sein Tageshonorar liegt bei 1.000 Euro und höher. Als er mit vielen
anderen Freiberuflern an einem Auftrag der Telekom arbeitete, ließ das
Bonner Unternehmen die Auftragsverhältnisse durch Juristen prüfen – und kam
zu dem Schluss, dass die Selbstständigen in den Augen der Deutschen
Rentenversicherung als „Scheinselbstständige“ gelten könnten, was hohe
Nachzahlungen von Sozialversicherungsbeiträgen nach sich gezogen hätte.
In der Folge verloren einige der Leute den Auftrag, andere wiederum mussten
sich über eine Zeitarbeitsfirma zu schlechteren Konditionen anstellen
lassen, um dann wieder für die Telekom arbeiten zu können. Kriegisch
verließ das Projekt. „Ich wollte kein Scheinangestellter sein“, sagt er.
Christa Weidner, IT-Kauffrau aus München und VGSD-Mitglied, klagte sogar
gegen die Deutsche Rentenversicherung. Sie setzte mit ihrem erfolgreichen
Unternehmen jahrelang Solo-Selbstständige bei Kundenprojekten ein. „Ich
machte siebenstellige Umsätze pro Jahr“, erzählt die 53-Jährige. Dann
stellte die Deutsche Rentenversicherung „Scheinselbstständigkeit“ bei
einigen der vermittelten Experten fest.
## Die Firmen haben Angst
Weidner klagte dagegen, war damit erfolgreich – aber der Schaden in der
Branche sei trotzdem da, erzählt sie. „Die Firmen haben zu viel Angst und
vergeben deutlich weniger Aufträge an Solo-Selbstständige, weil sie
befürchten, von der Deutschen Rentenversicherung wegen angeblicher
Scheinselbstständigkeit zu hohen Nachzahlungen verdonnert zu werden.“
Aufträge für Softwareentwickler, Programmierer und IT-Experten würden daher
jetzt eher an größere Firmen mit mehreren Angestellten oder an
Zeitarbeitsunternehmen vergeben. „Die Deutsche Rentenversicherung behindert
uns auf diese Weise in unserer Arbeit“, rügt Kriegisch.
Den Konflikt haben nicht nur IT-Spezialisten. Auch Marten Wiersma,
Krankenpfleger mit Intensivpflegeausbildung und 61 Jahre alt, möchte lieber
als Freiberufler in Kliniken eingesetzt werden und nicht festangestellt
sein, erst recht nicht bei einer Zeitarbeitsfirma. Als Freiberufler käme er
auf 8.000 Euro Bruttohonorar im Monat, als Angestellter einer
Zeitarbeitsfirma hingegen nur auf 4.000 Euro brutto, berichtet Wiersma.
Der Krankenpfleger arbeitete unter anderem auch an einer Klinik in Duisburg
als Selbstständiger. In einer Betriebsprüfung wurde dort
Scheinselbstständigkeit festgestellt, die Klinik trennte sich von den
Leuten. Es sei daraufhin schwieriger geworden, als Freiberufler zu
arbeiten, erzählt Wiersma.
## Große Unterschiede in den verschiedenen Branchen
Es gibt allerdings große Unterschiede in der Arbeitssituation und bei den
Einkommen der Solo-Selbstständigen. Das erklärt, warum das Interesse an
einer Festanstellung so unterschiedlich sein kann. Im schlecht zahlenden
Kulturbereich etwa arbeiten viele selbstständige Publizisten, Lektoren und
Musiktherapeuten auf Honorarbasis und sehnen eine Festanstellung mit
Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall herbei – während die
Situation der hochbezahlten Spezialisten im wirtschaftsnahen IT-Bereich
ganz anders ist.
Die Gewerkschaften sehen die Protestaktionen des VGSD daher kritisch. Hier
zeigt man Verständnis für die strengen Prüfungen der Deutschen
Rentenversicherung. Ein Solidarsystem wie die Rentenversicherung könne
nicht funktionieren, wenn sich Gutverdienende und ihre Auftraggeber aus der
Versicherungspflicht herauszögen, sagt Andreas Henke, Sprecher von Verdi in
Baden-Württemberg, „wir finden es richtig, dass auf das Entgelt für
abhängige Arbeit Sozialversicherungsbeiträge in das Solidarsystem
eingezahlt werden.“
Verdi wolle nicht, dass noch mehr sozialversicherungspflichtige Arbeit in
Selbstständigkeit umgewandelt werde. „Gerade im IT-Bereich werden die
Stammbelegschaften doch immer weiter reduziert.“
12 Aug 2015
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
## TAGS
Selbstständige
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Sozialversicherung
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