| # taz.de -- Krisenjugend in Europa: Keine neue Heimat für Marta | |
| > In der EU herrscht Freizügigkeit. Doch seit Januar gelten schärfere | |
| > Regelungen. Wer Beihilfen beantragt, riskiert sein Aufenthaltsrecht. | |
| > Martas Geschichte. | |
| Bild: Das Café Colectivo in Berlin-Friedrichsdhain, das eine Zeit lang Treffpu… | |
| Berlin taz | Die europäische Marta Álvaro* hat um halb fünf Feierabend. | |
| Berlin, ein besserer Stadtteil, ein Sommernachmittag. Die Kita befindet | |
| sich in einem alten Backsteinbau, die Eltern: jung, urban, gut verdienend. | |
| Väter mit Tattoos und Hipster-Frisuren holen die Kinder ab, manche zu Fuß, | |
| manche mit dem Fixie-Fahrrad, einer schnallt seinen Sohn auf der Rückbank | |
| eines schwarzen SUV mit getönten Scheiben fest. Álvaro, 36, das braune Haar | |
| zum Zopf gebunden, die nackten Füße in Sandalen, die Nägel blau lackiert, | |
| geht zur Tür hinaus. Niemand nickt ihr zu, es ist erst ihr dritter Tag | |
| hier. | |
| Sie läuft die Straße hinab, holt ein Päckchen Tabak heraus und beginnt zu | |
| drehen. Die Hitze steht zwischen den Hauswänden, es sei, findet Álvaro, | |
| „nicht auszuhalten ohne Strand“, wie es ihn in der Stadt an der spanischen | |
| Levante gibt, woher sie stammt. Drei Jahre wird sie nun mit diesen Kindern | |
| verbringen, immer drei Tage am Stück, dann zwei Tage Fachschule. 1.000 Euro | |
| brutto, 800 netto, so viel hat sie in Deutschland noch nie verdient. Am | |
| Ende wird sie ausgebildete Erzieherin sein. „Mit Kindern arbeiten fand ich | |
| schon immer gut“, sagt sie und bläst den Rauch aus. Nein, sie freut sich | |
| auf die Arbeit, sie ist nicht nur eine Notlösung, kein bloßes Mittel zum | |
| Zweck. | |
| Der spanischen Marta Álvaro hat die Berliner Ausländerbehörde einen Brief | |
| geschrieben. Er kam am 17. April. Álvaro hat ihn morgens aus dem | |
| Briefkasten geholt, den Absender kannte sie nicht, und den Umschlag in der | |
| U-Bahn aufgemacht. „Ich beabsichtige, die Feststellung zu treffen, dass Sie | |
| Ihr Recht auf Freizügigkeit in der BRD verloren haben“, stand darin. | |
| Álvaros Deutsch war gut genug, um zu verstehen, was sie da las. „Mein | |
| erster Impuls war Wut, sagt sie. War sie keine Europäerin? Dann dachte sie | |
| ans Zurückgehen. Wenn man sie hier nicht wolle, dann wolle sie auch nicht | |
| mehr hier sein. | |
| Aber was täte sie in Spanien? Was geschähe, wenn Álvaro in Deutschland | |
| bliebe? Wäre sie illegal? Käme sie gar ins Gefängnis? Würden sie sie | |
| abschieben? Wie sollte das gehen, in einem Kontinent der offenen Grenzen? | |
| ## Drei Wochen Frist | |
| Drei Wochen Zeit gab ihr der Sachbearbeiter der Ausländerbehörde, um | |
| „Tatsachen vorzutragen, die den von mir beabsichtigten Maßnahmen | |
| entgegenstehen könnten“. Drei Wochen, um zu belegen, dass sie es verdient | |
| hat, in Deutschland zu bleiben. Dass sie doch eine Europäerin ist, mit | |
| allen Rechten, und nicht nur eine Spanierin ohne Geld. | |
| Der eine Satz, der ist geblieben: „Wer betrügt, der fliegt.“ Er steht in | |
| einer Beschlussvorlage der CSU vom Januar 2014. Es war der Monat, in dem | |
| alle Rumänen und Bulgaren das Recht bekamen, nach Deutschland zu kommen. | |
| „Der fortgesetzte Missbrauch der europäischen Freizügigkeit durch | |
| Armutszuwanderung gefährdet die Akzeptanz der Freizügigkeit bei den | |
| Bürgern“, schrieb die CSU damals. Sie sprach von Migranten, die das | |
| Sozialamt täuschen würden, tatsächlich meinte sie aber auch die, die ganz | |
| legal Leistungen beziehen. Es war der Auftakt zu ihrem Europawahlkampf im | |
| Mai 2014. | |
| ## Die Mär vom Sozialtourismus | |
| Und es war Populismus. Ein massenhafter Missbrauch von Sozialleistungen sei | |
| „schlicht und ergreifend durch keine Auswertung und durch keine Zahlen | |
| belegbar“, sagt dazu der Präsident des Bundesamts für Migration und | |
| Flüchtlinge (BAMF), Manfred Schmidt. Der Anteil der | |
| Sozialleistungsempfänger aus diesen Ländern liege niedriger als der anderer | |
| Zuwanderergruppen. „Das scheint mir keine Armutszuwanderung zu sein“, sagte | |
| Schmidt. Auch die Friedrich-Ebert-Stiftung hat in ihrer Studie „Die Mär vom | |
| Sozialtourismus“ darauf hingewiesen, dass etwa Rumänen in Deutschland | |
| seltener Sozialleistungen beziehen als Deutsche. | |
| Nichts hat der EU eine solche Legitimität verschafft wie die Freizügigkeit. | |
| Sich überall in Europa niederlassen zu dürfen ist der Kern der europäischen | |
| Einigung. Wer dieses Recht von Bedingungen abhängig macht und es befristet, | |
| verstümmelt ein europäisches Erfolgsprojekt zu einem besseren | |
| Touristenvisum. Doch im Kampf gegen den vermeintlichen Missbrauch von | |
| Sozialleistungen kannte die CSU kein Halten: Sie wollte nicht bloß jene | |
| bestrafen, die das Sozialamt anlügen, sondern auch jene, die keinen Job | |
| finden und deshalb womöglich Geld kosten. | |
| Bis 2006 hatte Álvaro in Spanien Kunstgeschichte und Kulturmanagement | |
| studiert, doch der Kulturbetrieb in ihrem Land muss sparen. Irgendwann fing | |
| sie im Büro einer Grundstücksverwaltungsgesellschaft an. Ein festes | |
| Einkommen, doch nach einigen Jahren geriet die Firma in Schwierigkeiten. Im | |
| März 2013 verlor Álvaro ihren Job. Einen Sommer lang dachte sie darüber | |
| nach, was sie nun tun könne. Sie lernte ein Ehepaar aus Deutschland kennen, | |
| es bot ihr einen Platz in seiner Wohnung in Berlin an. Die | |
| Immobilienbranche in Spanien mochte in der Krise sein, der Tourismus in | |
| ihrer Gegend aber blüht. Álvaro entscheidet sich, Deutsch zu lernen. Im | |
| Oktober fährt sie nach Berlin und meldet sich in einer Sprachschule an. In | |
| den Jahren bei der Immobilienfirma hat sie Geld gespart; die Kursgebühren | |
| von 260 Euro im Monat, die Miete, ihren Lebensunterhalt bestreitet sie | |
| selbst. | |
| ## Neue Regelung seit Januar 2015 | |
| Im November letzten Jahres änderte die deutsche Regierung das „Gesetz über | |
| die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern“, im Januar trat die neue | |
| Regelung in Kraft. Schon vorher konnte ausgewiesen werden, wer seinen | |
| Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten kann – nun auch, wer länger als | |
| sechs Monate einen Job sucht. | |
| Beim Förderverein Roma in Frankfurt häufen sich heute die Ausweisungsfälle. | |
| „Die Lage hat sich verschlechtert“, sagt die Sozialarbeiterin Gaby Hanka. | |
| Früher galt ein Minijob als ausreichend für den Lebensunterhalt, die | |
| aufstockenden Leistungen zahlte das Sozialamt. Jetzt weise die | |
| Ausländerbehörde Ausländer schon aus, weil sie Aufstockungsleistungen | |
| beantragen – erst recht jene, die keine Arbeit mehr haben. „Dabei sind das | |
| alles Leute, die Jobs suchen“, sagt Hanka. | |
| Nachdem kürzlich ein 62-jähriger Bulgare seine Stelle verloren hatte, | |
| beantragte er Sozialleistungen. Die Ausländerbehörde Frankfurt entzog ihm | |
| zum 14. Juni das Recht, in Deutschland zu sein. Dass er in der Zwischenzeit | |
| wieder einen Job in einem Restaurant gefunden hatte, interessierte die | |
| Abteilung „Vollzug“ der Ausländerbehörde nicht mehr. „Mit der | |
| Arbeitsaufnahme wird die Verfügung nicht gegenstandslos“, schrieb sie. P. | |
| müsse Deutschland verlassen, arbeiten dürfe er nicht mehr, weil er „keine | |
| Freizügigkeit genießt“. | |
| ## Die Fälle häufen sich | |
| In München verschickte das Kreisverwaltungsreferat, Hauptabteilung II, | |
| Ausländerangelegenheiten Briefe an eine bulgarische Familie, weil sie | |
| Sozialleistungen bekam. Da die Familie noch keine fünf Jahre in Deutschland | |
| lebe, sei der Bezug von Sozialleistungen „schädlich für ihren Aufenthalt“. | |
| Sie sollten Deutschland verlassen. Bei der Caritas-Beratungsstelle in der | |
| Landwehrstraße häufen sich solche Fälle. „Die meisten sind verzweifelt und | |
| verstehen nicht, wieso das gerade ihnen passiert“, sagt die | |
| Sozialarbeiterin Ramona Sisu. „Sie machen alles, was sie können, um schnell | |
| eine Arbeit zu finden, egal was für eine, um in Deutschland weiter bleiben | |
| zu dürfen.“ | |
| Die CSU wollte ein Gesetz, um den Zuzug von armen Menschen vom Balkan zu | |
| verhindern. Geschaffen hat sie ein neues Recht, das auch auf Spanier, | |
| Griechen und Italiener anwendbar ist. | |
| Das Leben mit der Gefahr, von Amts wegen aus Deutschland entfernt zu | |
| werden, sei eine „ziemlich schwarze Zeit“, sagt Álvaro. Nach einer Weile | |
| gehen ihre Ersparnisse zur Neige, sie arbeitet in Cafés, für 6 Euro die | |
| Stunde, Vollzeit, 900 Euro Monatslohn, 500 gehen für Miete drauf. Im | |
| Dezember legt sie ihre B1-Deutschprüfung ab. | |
| Viele deutsche Freunde hat sie noch nicht gefunden, „aber bislang habe ich | |
| es auch noch nicht versucht. Mein Deutsch ist noch nicht gut genug.“ | |
| Trotzdem gefällt es Álvaro hier, sie will bleiben, als Kindergärtnerin | |
| arbeiten, erst mal, vielleicht klappt es ja irgendwann noch mit dem | |
| Kunstbetrieb. Doch die Ausbildung in der Kita machen darf sie nur, wenn sie | |
| vier Monate lang einen Vorbereitungskurs besucht. | |
| ## Prekärer geht nicht | |
| Álvaro unterschreibt den Vertrag, doch wenn sie zur Schule geht, kann sie | |
| nur noch wenig im Café arbeiten. Im März beantragte sie beim Sozialamt | |
| Charlottenburg Beihilfe für die Zeit bis zur Ausbildung im August. Nach | |
| drei Tagen kommt die Ablehnung. Sie sei noch keine fünf Jahre hier. „Bis | |
| heute habe ich keinen Euro bekommen“, sagt sie. 400 Euro verdient sie | |
| weiter im Café, nach der Schule. Ihre Mutter, Rentnerin, schickt ihr etwas | |
| Geld aus Spanien, prekärer geht es kaum. Dann kommt der Brief von der | |
| Ausländerbehörde. Er habe „die Information erhalten, dass Sie öffentliche | |
| Mittel beantragt haben“, schreibt der Sachbearbeiter. Álvaro habe | |
| „angegeben, dass Sie über kein Einkommen“ verfüge. | |
| Sie kenne viele, die schwarz arbeiten oder Hartz IV kassieren, Spanier und | |
| Deutsche, sagt sie. Sie glaube, dass das „ein Problem für das Land sein | |
| kann. Aber ich habe das nie gemacht.“ Sie habe Beiträge gezahlt und wollte | |
| dafür die Hilfe, die ihr zustehe. Der Umgang der Behörde mit ihr sei | |
| „antieuropäisch“, findet sie. „Wer Einkommen hat, ist Europäer. Und wer | |
| keines hat, ist Spanier und muss wieder zurück. Dann können sie gleich | |
| wieder die Grenzen hochziehen.“ Das Gericht zahlte ihr einen Anwalt. Der | |
| schrieb einen Widerspruch, legte eine Kopie des Ausbildungs- und des | |
| Arbeitsvertrags bei. Eine Antwort hat sie bis heute nicht bekommen. „Ich | |
| weiß immer noch nicht, ob ich hierbleiben darf.“ | |
| * Name geändert | |
| 11 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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