# taz.de -- Forscher über Wirtschaftsmigration: „Migranten sind heute qualif… | |
> Wirtschaftsforscher Thomas Bauer über Belastungen, Chancen und | |
> Zukunftsszenarien bei der Einwanderung von Flüchtlingen und Fachkräften. | |
Bild: „Deutschland sucht dringend Fachkräfte“, sagt Thomas Bauer. So wie d… | |
taz: Herr Bauer, was würde passieren, wenn Europa seine Grenzen öffnen | |
würde? | |
Thomas Bauer: Das wird so nicht passieren. Staaten werden immer versuchen, | |
Zuwanderung zu kontrollieren. | |
Weil sie Angst haben, dass die Zahl der Migranten erheblich steigt? | |
Vermutlich würden wirklich wesentlich mehr Migranten nach Europa kommen. | |
Die Frage wäre allerdings, wo genau sie hingehen und wie lange sie bleiben | |
würden. Ich bin davon überzeugt, dass es nicht möglich ist, so etwas seriös | |
vorauszusagen. | |
Warum nicht? | |
Weil sehr viele persönliche Gründe die Entscheidung beeinflussen, ob ein | |
Mensch migrieren will. Eine Rolle wird zum Beispiel immer spielen, wo sich | |
andere Menschen aus dem Heimatland bereits angesiedelt haben, wo es also | |
sogenannte Migrationsnetzwerke gibt. Nach der EU-Osterweiterung hat man zum | |
Beispiel angenommen, dass sehr viele Menschen aus Rumänen und Bulgarien | |
nach Deutschland einwandern würden. Das ist nicht passiert. Andererseits | |
sind viel mehr Migranten als erwartet aus Polen nach Großbritannien | |
gekommen. Das hatte den einfachen Grund, dass Deutschland und Österreich | |
die Arbeitsmigration aus diesen Ländern für ein paar Jahre verhindert | |
haben. | |
Das scheint ökonomisch nicht sehr sinnvoll zu sein. | |
Das europäische Asylsystem erfüllt derzeit nicht seine Funktion, ist | |
ökonomisch ineffizient geregelt und menschlich hart. Viele Menschen machen | |
sich auf den Weg, nehmen Lebensgefahr auf sich, und dann wird ihr | |
Asylgesuch abgelehnt. Das ist für alle Beteiligten mit hohen Kosten | |
verbunden. Es wäre natürlich besser, wenn Wirtschaftsmigranten über einen | |
anderen Weg einwandern würden als über politisches Asyl. | |
Wie könnte denn Migration anders reguliert werden? | |
Deutschland sucht dringend Fachkräfte. Es gibt für die EU zwar die so | |
genannte Blue Card, die die Einwanderung von Fachkräften unter gewissen | |
Voraussetzungen ermöglicht. Aber ich bezweifle, dass diese Regelung | |
ausreichend ist, wenn man sich den demografischen Wandel anschaut. | |
Wie sähe ein mögliches Modell aus? | |
Möglich wären sogenannte Mobilitätspartnerschaften. Dafür verpflichtet sich | |
Deutschland in bilateralen Verträgen, eine gewisse Zahl von Facharbeitern | |
aus einem Land für eine begrenzte Zeit aufzunehmen. Dies kann auch zu einem | |
Wohlstandszuwachs in den Heimatländern führen, da bestimmte Technologien | |
und Fertigkeiten am Ende „mitgenommen“ werden. | |
Welche Voraussetzungen müssen ausländische Fachkräfte denn momentan | |
erfüllen, um nach Deutschland einwandern zu können? | |
Sie müssen einen Hochschulabschluss nachweisen und einen Arbeitsvertrag, | |
nach dem sie mehr als 48.400 Euro im Jahr brutto verdienen. | |
Das ist deutlich mehr als das deutsche Durchschnittseinkommen. | |
Ja. Für Mangelberufe liegt die Grenze allerdings niedriger. | |
Die erste große Migrationsbewegung nach Deutschland waren die sogenannten | |
Gastarbeiter. Was unterscheidet die aktuelle von der früheren Einwanderung? | |
Die Migranten sind heute deutlich qualifizierter als früher. Insbesondere | |
syrische Flüchtlinge sind überwiegend gut ausgebildet, aber auch die | |
meisten Wirtschaftsmigranten aus anderen Ländern. Anders als zu Zeiten der | |
Gastarbeiterpolitik benötigt Deutschland heute keine unqualifizierten | |
Einwanderer mehr. | |
Wie berechnen Ökonomen denn die wirtschaftlichen Effekte von Migration? | |
Das ist kompliziert: Zunächst gibt es direkte Effekte, etwa auf die Löhne, | |
die Steuereinnahmen oder die Ausgaben für Sozialleistungen. Dazu kommen | |
aber auch indirekte wirtschaftliche Effekte: über den Konsum, die | |
Veränderung von Produktion und die Nutzung von öffentlicher Infrastruktur. | |
Studien können oft nur die direkten Effekte messen. | |
Zeigen diese Studien vorwiegend positive oder negative Effekte von | |
Migration auf die Wirtschaft des jeweiligen Landes? | |
Das schlechteste Szenario ist meist, dass Migration kaum einen Effekt auf | |
die Wirtschaft hat. Wissenschaftlich lassen sich weder sinkende Löhne noch | |
steigende Arbeitslosenzahlen nachweisen. Selbst wenn sich alle Migranten in | |
einer kleinen Region konzentrieren würden, müsste man aus ökonomischer | |
Perspektive nach unserem Erkenntnisstand wirtschaftlich wenig befürchten. | |
Aber die Ausgaben des Sozialstaates steigen durch Migration – und Migranten | |
bekommen häufiger Sozialleistungen als Deutsche. | |
Das stimmt. In Deutschland ist dies aber insbesondere eine Folge unserer | |
Gastarbeiterpolitik und der jahrzehntelangen Nicht-Existenz einer | |
Integrationspolitik. Aber wenn man soziale Faktoren berücksichtigt, hat ein | |
Migrant dieselbe Wahrscheinlichkeit, Arbeitslosengeld zu beziehen wie ein | |
Deutscher mit derselben Bildung, demselben Alter und demselben Geschlecht. | |
Es ist ja nicht so, dass Zuwanderer hier von Sozialhilfe leben wollen. Auch | |
die EU-Freizügigkeit hat bisher nicht zu einer nennenswerten Einwanderung | |
in die Sozialsysteme geführt. Die Menschen wollen arbeiten und wollen, dass | |
ihre Kinder eine gute Ausbildung bekommen. | |
Die Sozialsysteme werden also nicht belastet – aber Migranten zahlen | |
weniger Steuern. Oder? | |
Es gibt verschiedenste Versuche, den fiskalischen Beitrag eines Migranten | |
zu berechnen. Meistens berechnet man das über einen Lebenszyklus. Welche | |
Leistungen bekommt ein Migrant, wo zahlt er ein? Wir können das am Ende | |
nicht zuletzt aufgrund eines Mangels an belastbaren Daten nur schwer | |
abschätzen. Insgesamt sehe ich aber auf Basis der bisherigen Erkenntnisse | |
keine belastbaren Hinweise für die Vermutung, dass Migranten für den Staat | |
teurer sind als Deutsche. Besonders, weil die heutigen Zuwanderer im | |
Durchschnitt sogar besser ausgebildet sind als die deutsche Bevölkerung. | |
Deutschland scheint also von der Migration zu profitieren. Aber wäre es aus | |
globaler Perspektive nicht sinnvoller und gerechter, die Probleme in den | |
jeweiligen Herkunftsländern zu lösen? | |
Zum Teil ist die Forderung sicher berechtigt. Wenn man sich die politischen | |
Krisen etwa im Nahen Osten ansieht, ist das oft aber kurzfristig gar nicht | |
möglich. | |
Und bei Migranten aus politisch relativ stabilen Ländern? | |
Langfristig können Entwicklungshilfe, Investitionen vor Ort und ein freier, | |
fairer Handel die Migration bremsen. Zunächst würden aber sogar mehr | |
Migranten nach Europa kommen. | |
Warum? | |
Migration ist teuer. Wenn der Wohlstand zunimmt, können sich mehr Menschen | |
den Weg nach Europa leisten. Die Ärmsten der Armen haben gar keine | |
Möglichkeit, zu kommen. Oft legt die ganze Großfamilie zusammen, um einem | |
Familienmitglied die Wanderung zu ermöglichen. Für den Auserwählten ist das | |
oft keine leichte Situation. Auf ihm lasten hohe Erwartungen und er muss | |
einen Großteil seines Lohns nach Hause überweisen. | |
Schwächt es nicht die Herkunftsländer, wenn alle jungen, klugen Köpfe nach | |
Europa gehen? | |
Auch hier wird ein wichtiger Aspekt übersehen: Die Überweisungen von | |
Migranten an ihre Familien sind für viele Entwicklungsländer von größter | |
Bedeutung. Oft sind diese Zahlungen sogar wichtiger als die klassische | |
Entwicklungshilfe. Es kommt natürlich darauf an, wie dieses Geld genutzt | |
wird, ob das Geld aus Europa investiert wird, oder ob das Geld durch Konsum | |
aufgebraucht wird. In diesem Sinn kann Migration aber auch eine Form der | |
Entwicklungshilfe vor Ort sein. | |
21 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Kersten Augustin | |
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