| # taz.de -- NSU-Richter Manfred Götzl: Der Stoische | |
| > Ein Scheitern des NSU-Prozesses ist vorerst abgewendet. Das ist vor allem | |
| > Richter Manfred Götzl zu verdanken. Auch für ihn steht viel auf dem | |
| > Spiel. | |
| Bild: Unbeirrt und unnachgiebig: Richter Manfred Götzl. | |
| München taz | Es dürfte Manfred Götzl wurmen, sehr sogar. Der Richter | |
| blickt in den Saal A 101, auf die Bänke der Verteidigung, auf die der | |
| Nebenklageanwälte. Alles voll besetzt – nur die Zeugenbank ist leer. Dort | |
| sollte eigentlich der Thüringer Tom T. sitzen, ein früherer Wegbegleiter | |
| des späteren NSU aus der rechten Szene. | |
| Gerade erst hat am Montag der 223. Verhandlungstag des NSU-Prozesses | |
| begonnen. Und nun das: Der einzige Zeuge des Tages bleibt fern. | |
| Ausgerechnet jetzt, da man sich endlich wieder Sachfragen widmen kann. Aber | |
| Götzl verzieht keine Mine. | |
| „Wir klären, warum der Zeuge nicht erschienen ist“, teilt er nüchtern mit. | |
| Und lässt seine Richterkollegen Verfassungsschutzerkenntnisse über die vier | |
| Mitangeklagten verlesen, die noch ins Verfahren eingebracht werden müssen. | |
| Teilnahmen an rechten Stammtischen, Kontakte zum NSU-Trio. Wenig Neues, | |
| aber Götzl lauscht aufmerksam, als ginge es um den letzten Mosaikstein zum | |
| Tatnachweis. | |
| Alles wieder Routine also. Dabei stand der Prozess vor einer Woche noch auf | |
| der Kippe wie noch nie. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe hatte zum | |
| wiederholten Mal beantragt, ihre drei ursprünglichen Verteidiger zu | |
| entlassen: Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl, Anja Sturm. Diesmal sattelte sie | |
| noch eine Strafanzeige wegen Verletzung der Schweigepflicht drauf. Zuvor | |
| hatte das Anwaltstrio bereits entnervt einen Antrag auf Entpflichtung | |
| gestellt. | |
| Dass das Verfahren am Montag noch läuft, ist vor allem einem zu verdanken: | |
| Manfred Götzl. Er ließ schon vergangene Woche stoisch weiterverhandeln, als | |
| wäre nichts geschehen. Den jüngsten Zschäpe-Antrag lehnte er schon am | |
| Freitag ab, als unbegründet. Auch die Selbstaufgabe von Heer, Stahl und | |
| Sturm wies Götzl zurück. Zschäpes Strafanzeige wiederum ließ die | |
| Staatsanwaltschaft München nicht zu. | |
| ## Götzl beruhigt die Gemüter | |
| Sicher, der Konflikt gärt weiter. Auch am Montag wechselt die Angeklagte | |
| kein Wort mit ihren Anwälten Stahl, Sturm und Heer, verwehrt ihnen jeden | |
| Gruß. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit bis zur nächsten Attacke. Heute | |
| aber bleibt es ruhig. Zschäpe verfolgt den Prozess unbeteiligt mit | |
| verschränkten Armen. Götzl hat die Gemüter wieder beruhigt. | |
| Für den 61-Jährigen geht es um einiges. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet | |
| der Franke und zweifache Vater an Gerichten. Jahrelang verfolgte er als | |
| Staatsanwalt Kapitaldelikte, galt als unnachgiebig. Dann wechselte er auf | |
| die Richterbank. Seit fünf Jahren ist Götzl höchster Richter am Münchner | |
| Oberlandesgericht, zuständig für Staatsschutzdelikte – sein Ruf blieb. Er | |
| verurteilte den Mörder des Modemachers Rudolph Moshammer und den | |
| Wehrmachtsoffizier Josef Scheungraber für die Ermordung von 14 Zivilisten | |
| in Italien 1944. Beide lebenslänglich. | |
| Dennoch: Das NSU-Verfahren ist der größte Prozess in Götzls Karriere. 10 | |
| Morde einer rechtsterroristischen Zelle, 3 Anschläge, 15 Überfälle. Eine | |
| mehrjährige Verhandlung mit über 500 Zeugen, im internationalen Fokus. | |
| ## Götzl kämpft mit zwei Endszenarien | |
| Götzl trägt dabei das größte Risiko: Er muss den Prozess zusammenhalten, | |
| ihn vorantreiben. Und er muss mit zwei Endszenarien kämpfen, deren | |
| schlechterer Variante er zuletzt bedenklich nahe kam. Götzl kann ein | |
| historisches Urteil sprechen. Oder er kann ein Fiasko verkünden: das | |
| Platzen des Prozesses. Es wäre eine Katastrophe für die Angehörigen der | |
| Mordopfer und Verletzten der Sprengstoffanschläge, die eine Verurteilung | |
| und einen Schlussstrich herbeisehnen. | |
| Am Montag bleiben Götzl nur kleine Schritte. Der Zeuge Tom T. habe sich mit | |
| einem Attest krankgemeldet, verkündet der Richter. Dann folgt eine weitere | |
| Geduldsprobe. Am Mittag stellen gleich 23 der Opferanwälte einen | |
| Großantrag. Sie wollen alle Bundesverfassungsschutzakten, die kurz nach | |
| Auffliegen des NSU im November 2011 geschreddert und teilweise | |
| rekonstruiert wurden. Zudem soll der Verantwortliche, ein | |
| Verfassungsschützer mit dem Tarnnamen Lothar Lingen, vorgeladen werden. | |
| Minutenlang trägt die Berliner Anwältin Antonia von der Behrens den | |
| 18-seitigen Antrag vor. Die Akten seien „gezielt vernichtet“ worden, weil | |
| sie offenbar „kritische Informationen“ zum NSU-Komplex enthielten. | |
| Aus Sicht der Nebenklage soll mit dem Antrag eines der bis heute größten | |
| NSU-Fragezeichen aufgearbeitet werden. Noch dazu, da unter den | |
| geschredderten Akten, die des V-Manns Michael von Dolsperg alias „Tarif“ | |
| waren. Der hatte behauptet, von einem NSU-Unterstützer gebeten worden zu | |
| sein, das untergetauchte Trio zu beherbergen. Der Verfassungsschutz aber | |
| habe ihn abgehalten – und damit eine Chance vertan, die Neonazis zu | |
| schnappen. Der Bundesverfassungsschutz dementierte. Dennoch kostete die | |
| Schredderaktion dem damaligen Präsidenten Heinz Fromm das Amt. | |
| Am Ende dann folgt ein Fingerzeig an Götzl. Man verweise auf „das Gebot der | |
| Wahrheitsfindung“, das den Richter verpflichte, „jedes taugliche und | |
| erlaubte Mittel einzusetzen“, wenn auch nur die „entfernte Möglichkeit“ | |
| eines Erkenntnisgewinns bestehe. Daher sei der Beweisantrag „zwingend“ zu | |
| befolgen. | |
| Es muss Götzl wieder gegen den Strich gehen. Nach all dem Trubel nun noch | |
| einen neuen Komplex eröffnen? Und hatte er nicht Zeugen stets akribisch | |
| befragt, um die Wahrheit gerungen? Was soll die Belehrung? | |
| ## Götzl führt die Regie | |
| Es gibt kaum einen Prozesstag, in dem Götzl nicht klarmacht, wer in dem | |
| Verfahren die Regie führt: er selbst. Gern unterstreicht er diesen Anspruch | |
| auch lautstark, zuletzt, als der Druck stieg, häufiger. „Es reicht, | |
| unterbrechen Sie mich nicht!“, herrschte er Anwälte an. | |
| Auf der Verteidigerbank schütteln Heer und Stahl die Köpfe über den Antrag. | |
| Und Götzl? Verfolgt ungerührt die Ausführungen. Sagt am Ende: „Gut.“ Man | |
| werde beraten, später. Auch hier folgt der Richter seinem Plan: keine | |
| weitere Eskalation. | |
| Unbeirrt hat Götzl bisher Detail für Detail der Anklage abgearbeitet, | |
| Zeugen unnachgiebig befragt – auch solche aus der rechten Szene, die sich | |
| an nichts mehr erinnern möchten. Als Zschäpe sich wiederholt krankmeldete, | |
| reduzierte Götzl die Verhandlungstage von drei auf zwei pro Woche. Er will | |
| den Prozess nicht nur zu Ende führen, sondern auch keine Revision | |
| zuzulassen. | |
| Und doch werfen ihm einige nun seinen ersten großen Fehler vor: Er gestand | |
| Zschäpe den Münchner Anwalt Mathias Grasel als vierten Verteidiger zu. Das | |
| sollte der Besänftigung dienen – stattdessen keilte Zschäpe mit dem neuen | |
| Rechtsbeistand erst richtig los gegen ihre alten Verteidiger. | |
| ## Götzl schafft sich eine Reserve | |
| Ein Fehler? Man kann es auch anders sehen. Nichts sprach dafür, dass | |
| Zschäpe Ruhe geben würde. Mit Grasel hat sich Götzl nun eine Reserve | |
| geschaffen – für den Fall, dass Sturm, Heer und Stahl doch noch erfolgreich | |
| hinschmeißen. Dann müsste der Neue Zschäpes Verteidigung zu Ende führen, | |
| auch wenn er längst noch nicht in das Verfahren eingearbeitet ist. | |
| Am Montag rührt sich Grasel nicht, starrt die meiste Zeit auf seinen | |
| Laptop. Immer wieder beugt sich Zschäpe tuschelnd zu ihm hinüber. Grasel | |
| nickt verständig, lächelt. Alles unauffällig, keine neuen Angriffe. Und nun | |
| ist es nur noch ein Verhandlungstag, dann geht der Prozess in eine | |
| vierwöchige Sommerpause. | |
| Was aber, wenn sich Zschäpe demnächst auch von Grasel abwendet, auch ihn | |
| entlassen will? Götzl wird auch dieses Szenario mitbedacht haben. Es dürfte | |
| seinen Zeitplan nicht erschüttern, der ein Urteil im Frühjahr 2016 erwarten | |
| lässt. Bei Heer, Stahl und Sturm liegt der erste der drei | |
| Entpflichtungsanträge ein Jahr zurück. Das Trio ist bis heute im Mandat. | |
| Auch bei Grasel dürfte es dauern. Und Götzl lässt keinen Zweifel, dass ihn | |
| wenig davon abbringt, weiterzuverhandeln. Immer einen Tag mehr. Bis zum | |
| Urteil. | |
| 3 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
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