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# taz.de -- Flüchtlings-Protestcamp in Dortmund: Das Super-Wunderland
> In Dortmund protestieren syrische Flüchtlinge für eine schnellere
> Bearbeitung ihrer Asylanträge. Deutschland, dachten sie einst, sei
> gerecht.
Bild: Die Luftmatratzen im Camp sind klamm geworden, sie lagen seit mehr als 50…
Dortmund taz | In tausend alternativen Universen wäre Bani, ein junger
Syrer mit den hohen Wangenknochen und grün-braunen Augen, ein klarer Fall
für jede Model-Agentur. Der Bart lässt ihn älter aussehen als 26 und sein
Blick auch. Ein Blick, aus dem man sich früher oder später lösen muss, weil
er einen verlegen macht.
In diesem einen von tausend alternativen Universen hockt der Medizinstudent
im Schneidersitz auf einer blauen Luftmatratze, die klamm davon geworden
ist, dass sie seit mehr als 50 Nächten im Freien liegt. Hin und wieder
gönnt er sich eine Zigarette, fünfmal täglich wäscht er Gesicht und Hände
vor dem Beten in einem Eimer mit Wasser. Meistens jedoch starrt er auf den
Bildschirm seines Smartphones, saugt die Bilder auf, die er da sieht.
Er zeigt das Foto eines friedlich lächelnden Senioren mit spärlichem weißen
Haar und weißem Bart. Typ Weihnachtsmann. Er sei der Schwiegervater seiner
Schwester, erzählt Bani, und wischt auf dem Display ein Bild weiter: Man
sieht das Konterfei des Mannes, nach einem Angriff des Islamischen Staates,
übel zugerichtet, blutüberströmt, mit zerfetzten Klamotten, und wer weiß,
was noch alles zerfetzt wurde. Wisch, der lächelnde Weihnachtsmann ist
zurück, wisch, Opa liegt in seiner eigenen Blutlache. Bani sieht zur Seite.
Sieht junge Männer seines Alters, eingemummelt in Schlafsäcke, den manche
bis über den Scheitel gezogen haben. Mal lugt ein Knöchel hervor, mal tiefe
schwarze Augen, die verbissen an die rote Decke starren, als wollten sie
ein Loch hineinbrennen.
## Ein kleiner toter Junge
Seit dem 9. Juni demonstrieren etwa hundert syrische Flüchtlinge in einem
Protestcamp, zunächst vor der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge (Bamf) im Dortmunder Westen, jetzt gegenüber dem Hauptbahnhof
in der Innenstadt. Sie fordern eine schnellere Bearbeitung ihrer
Asylanträge. Drei Wochen, hieß es anfangs, sollten sie auf ihre Anhörung
warten, mittlerweile sind es sechs Monate oder ein ganzes Jahr. Erst mit
Aufenthaltstitel haben sie die Chance, ihre Familien nachzuholen oder zu
arbeiten.
Nur auf Facebook kann sich Bani über seine Familie und sein Dorf
informieren. Da habe er auch die Bilder seiner zerstörten Straße gesehen,
erzählt er, die Nachbarhäuser, die Bleibe seiner Schwester, von der nur
noch ein Teil der Außenfassade steht. Wisch, ein kleiner Junge tot. Wisch,
ein Video, das zeigt, wie mehrere Männer seine blutende Leiche aus Trümmern
zerren. „Der Cousin meiner Nichte“, sagt Bani. Wisch, Trümmer, wisch,
Leichen. „Immer Angst, keine Luft“, sagt Bani auf Deutsch, kratzt mit einer
Gabel in seinem Sahneschokobecher, obwohl der längst leer ist.
Bald werden die Syrer mit ihrem Protest nach Berlin umziehen. Sie wollen
ihm so mehr Nachdruck verleihen. Vor knapp drei Jahren hatte sich am
Oranienplatz schon einmal ein Protestcamp von Asylsuchenden formiert. Die
Demonstranten wollten die Politik und Bürger für ihr Anliegen –
bedingungslose Freiheit und Bleiberecht für alle – gewinnen. Einigen ging
das nicht weit genug. Sie zogen vom Berliner Camp aus nach München und
traten dort in einen Hungerstreik. Ihre Forderung: sofortige Anerkennung
ihrer Asylanträge. Mehr als eine Woche hielten die 50 Flüchtlinge durch und
drohten schließlich mit Selbstmord. Die Polizei löste das Camp gewaltsam
auf.
In Berlin besetzten Flüchtlinge zudem eine Schule, letztlich räumten die
Asylsuchenden 2014 aber sowohl den Oranienplatz als auch die Schule. Die
schnellere Bearbeitung ihres Asylantrags oder gar eine Anerkennung kam nur
für sehr wenige heraus. Drastische Wege wollen die Dortmunder Syrer nicht
gehen, betonen sie.
Transparente und Plakate wellen sich im Wind: „Helfen Sie uns, unsere
Familien zu retten“ und „Wir wollen hier arbeiten und lernen“ steht darau…
Große rote Plastikplanen sind mit weißen Abspannseilen an Buchen
festgezurrt worden. Sie sollen die Demonstranten vor Hitze und Regen
schützen. Weil die Leinen das Lager kreuz und quer durchschneiden, gehen
seine Bewohner immer ein bisschen gebückt hindurch.
Einige Männer spielen Karten, andere Schach, manche hören Musik. Versuchen
irgendwie, den Tag zu überstehen. Und den danach. Zwei kleine
Auseinandersetzungen habe es gegeben, sagt Bani, mehr nicht. Obwohl die
Syrer seit mehr als einem Monat aufeinanderhocken, keine Privatsphäre
haben. Gelegentlich spielen sie Fußball, sogar mit Polizisten, die das
Lager 24 Stunden täglich bewachen. Ein Dixi-Klo für 85 Euro pro Woche steht
neben dem Camp bereit, über Twitter wurde es von Unterstützern organisiert,
finanziert wird es von Spenden wie fast alles andere.
## „Wie viele Stories?“
Wenn die Presse kommt, rufen die Männer nach Fadi, ihrem Sprecher. Meistens
telefoniert er, bekommt SMS oder WhatsApp-Nachrichten. Weil es ihm
vergleichsweise gut geht, möchte er, dass über die anderen geschrieben
wird. „Wie viele braucht ihr?“, fragt er auf Englisch. „Wie viele Stories…
Dann hat er schnell Adnan zur Hand. Seine Frau und die gemeinsamen Kinder
zwischen drei und sechs Jahren warten in Idlib, einer Stadt im Nordwesten
Syriens. Sie blieben zurück, weil Adnan sie auf einem sicheren Weg
nachholen will.
Adnan ist Arzt, Kardiologe. Er musste in dem europäischen Land, in dem er
zuerst ankam, den Fingerabdruck abgeben. In Ungarn wurde er gewaltsam dazu
gezwungen, voraussichtlich muss er dorthin zurück. Chancen, seine Kinder
aus dem Krieg zu holen, habe er so nicht mehr, übersetzt Fadi. In Ungarn
gibt es so etwas wie Familienzusammenführung faktisch nicht.
„Jeden Tag sehe ich Männer wie ihn, starke Männer, die zusammenbrechen und
die sagen: ‚Wenn es in Deutschland keine Chance gibt, gehe ich zurück, um
mit meiner Familie zu sterben‘“, sagt Fadi, und er schluckt, weil er
gestern erst einen Freund abhalten musste, sich in der Nähe einer Kirche zu
erhängen. Die anfänglichen Hoffnungen sind einer allgemeinen Ernüchterung
gewichen: Shems, der „Putzer“, räumt längst nicht mehr so viel auf wie am
Anfang, und der Künstler malt düsterere Bilder als zu Beginn.
## Gesehen werden
Die Geflüchteten am Berliner Oranienplatz hatten 2013 weitreichende Pläne,
wollten Betroffene in ganz Europa mobilisieren. Gesehen werden, weil sie
glaubten, dass weder die Regierung noch die Bevölkerung von ihren Problemen
weiß. Teilweise mag ihnen das gelungen sein. Die Asylgesetze haben sich
jedoch nicht verbessert. Protestierende Asylbewerber würden außerdem nicht
bevorzugt, heißt es seitens des BAMF.
Deutschland war auch für Fadi und seine Männer mal so etwas wie eine
Mischung aus Narnia und Hogwarts. Das Superwunderland. Im Herzen Europas
gehe es gerecht zu, dachten sie. Das haben sie gelesen, sagen sie. Sie
hätten sich informiert. Auch sie dachten, sie müssten sich vor allem
bemerkbar machen. Als das vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
nicht geklappt hat, ging es weiter in die Innenstadt und jetzt eben nach
Berlin.
Doch bringen solche Protestcamps etwas? Immerhin bergen sie die
Gelegenheit, mit Politikern zu sprechen. Die Notwendigkeit einer
Rechtfertigung. Immer wieder versichern Politiker ihnen, sie seien im
Recht, faktisch ändert sich für die Syrer jedoch nichts.
„Die sagen immer so einen langen Satz“, sagt Bani. „Mit einem großen
Abstand zwischen ‚Wir‘ und ‚helfen‘“. Dann konzentriert er sich, um d…
vielen deutschen Wörter aneinanderzureihen: „Wir versprechen, dass wir
versuchen werden, alles zu tun, um Ihnen zu helfen.“ Er holt erst mal Luft.
„Das ist die deutsche Bürokratie, in der Menschlichkeit verloren geht“,
sagt Basti, Vogel-Tattoo auf dem Unterarm. Er gehört zu den linken
Aktivisten, die jeden Tag ins Camp kommen. Sie wollen Solidarität zeigen,
den Geflüchteten beim Übersetzen helfen, und manchmal, wenn ein paar Nazis
am Camp vorbeispazieren, die sie erkennen, geben sie der Polizei Bescheid.
## Die 90er Jahre
Basti erzählt dann was über die Asylrechtsverschärfung vor rund zwei
Jahrzehnten, die 90er Jahre, in denen Flüchtlingsheime in Hoyerswerda und
Lichtenhagen gebrannt haben, doch Bani hört. wenn überhaupt, nur beiläufig
zu. Eigentlich ist ja auch egal, warum er in dieser Lage ist, jetzt sitzt
er jedenfalls hier in Dortmund als einzige Hoffnung für die Eltern und acht
der elf Geschwister, die noch in Syrien sind.
Das Camp, der Protest, sie geben ihm das Gefühl, aktiv etwas zu tun, statt
nur zu warten. Basti deutet mit der Zigarette auf Bani, dann auf das Camp
und sagt: „Irgendwann müsst ihr euch etwas anderes überlegen.“
Vielleicht, weil er weiß, wie es den Flüchtlingen am Oranienplatz und in
München ergangen ist. Nach anderthalb Jahren des Protestes, der viel
mediale Aufmerksamkeit und solidarische Unterstützung brachte, waren sie
schnell aus der Öffentlichkeit verschwunden – ohne dass ihre Forderungen
eingelöst wurden. Auch jetzt stehen die Chancen schlecht. Im Moment haben
Asylanträge aus Osteuropa Vorrang, weil die Menschen im Gegensatz zu den
Syrern rasch abgeschoben werden können.
Mittlerweile ist es spät geworden. Ein paar Isomatten werden gen Mekka
ausgerichtet. Oder besser da, wo noch Platz ist. Die meisten beten ohnehin
für sich oder gehen in die Moschee, wo sie auch duschen dürfen und für sie
gekocht wird. „Die Klischee-Araber“ wolle er nun herausholen, sagt Jonas
und schleppt eine Wasserpfeife an. Lange wandert der Shisha-Schlauch herum;
wer ihn bekommt, klopft seinem Vorgänger als Dankeschön sanft auf den
Handrücken.
Bani bereitet unterdessen das Nachtlager für seine Gäste, schüttelt
Luftmatratzen und Schlafsäcke aus, legt ein Gartenmöbelpolster als Kissen
dazu. Auch um vier Uhr nachts wird es nicht ganz ruhig im Camp, Musik
dudelt über die Schlafsäcke hinweg, und manche diskutieren noch immer. Vom
vielen Reden und Rauchen ist man irgendwie erschöpft und schläft rasch ein.
Am nächsten Tag geht das Debattieren weiter. Die Organisatoren des Camps –
Bani, Medizinstudent, Fadi, IT-Spezialist, und Sakher,
Politikwissenschaftler – werden nicht aufgeben. Zwar sind sie
realistischer, was ihre Chancen betrifft, aber sie planen, wohl auch, um
etwas zu unternehmen, was ihre Situation verbessern könnte. Vielleicht
auch, um mit ihren Sorgen nicht allein zu sein. In tausend alternativen
Universen hätten sie die Wahl – in diesem einen Universum haben sie diese
Wahl nicht.
3 Aug 2015
## AUTOREN
Hanna Voß
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werden.
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