# taz.de -- Staatsministerin über Griechenlands Krise: „Wir werden nicht ste… | |
> Solidaritätsministerin Theano Fotiou über Soziales in Zeiten der Krise, | |
> die Folgen eines möglichen Grexit und was der Staat von armen Menschen | |
> lernen kann. | |
Bild: Märkte ohne Mittler, auch da kann Solidarität beginnen – Markt in Ath… | |
taz: Sie stehen dem Ministerium für „Soziale Solidarität“ vor. Was kann m… | |
sich drunter vorstellen? | |
Theano Fotiou: Das Ministerium versucht, der Privatisierung des sozialen | |
Lebens und der Zerstörung des Sozialstaats entgegenzutreten. Dafür | |
versuchen wir, von den Initiativen der „Sozialen Solidarität“ der | |
Bevölkerung in den letzten sechs Krisenjahren zu lernen. Dort ist etwas | |
bemerkenswertes passiert: Menschen haben sich selbst organisiert, um sich | |
im Alltag gegenseitig zu helfen. | |
Was meinen Sie? | |
Soziale Küchen, Kliniken und Apotheken, Lehrerkollektive, die | |
Umsonstunterricht anbieten, Zeitbanken, Märkte ohne Mittler, die neue | |
Vertriebsstrukturen erfinden. Da verkaufen die Bauern direkt an | |
selbstorganisierte Konsumentenkollektive und die Preise bleiben realistisch | |
an die Produktkosten gekoppelt, werden nicht vom Markt manipuliert und sind | |
somit ethisch. Mit diesen Initiativen zur solidarischen Selbsthilfe hat | |
sich eine neue Idee von Gesellschaft verbreitet. Auch wenn es nicht die | |
Mehrheit der Gesellschaft ist, diese Initiativen sind in den letzten Jahren | |
wie kleine Inseln überall im Land aus dem Boden geschossen. | |
Aber das sind Graswurzelbewegungen, können sie eine Grundlage für ein | |
Sozialstaatsmodell sein? | |
Es geht darum, aus dem Wissen und dem Erfindungsreichtum der Armen zu | |
lernen. Denn sie haben Lösungen gefunden, wie man spart, wie man aus einem | |
Euro so viel machen kann, wofür der Staat 100 Euro gebraucht hätte. Es geht | |
auch um das Wissen, darum, was man alles ohne Geld machen kann, indem man | |
intelligente Lösungsansätze anwendet. Wir sind kein philanthropisches | |
Programm, wir geben den Menschen kein Geld, sondern helfen nur mit Waren | |
und erfinden neue Distributionsformen. Denn wenn du jemandem nur Geld | |
gibst, machst du ihn zu einem passiven Empfänger und aktivierst ihn nicht. | |
Wie können die Menschen aktiviert werden durch zentrale Maßnahmen der | |
Regierung? | |
Aber ihr Gesetz zur humanitären Krise ist doch ein klares Hilfsprogramm des | |
Staates für die Ärmsten. | |
Das erste Prinzip ist, dass wir kein Geld verteilen. Eine humanitäre Krise | |
ist definiert als der Mangel überlebenswichtiger Basisgüter bei einer | |
großen Mehrheit der Bevölkerung: Lebensmittel, Elektrizität, Gesundheit. | |
Das Ministerium versucht günstige Lösungen zu finden, um diese Güter an die | |
Armen zu verteilen. Das ist die zentrale Idee des Gesetzes zur humanitären | |
Krise, das wir im März 2015 verabschiedet haben. Wir haben von jedem | |
Ministerium Mittel zusammengekratzt, um dann insgesamt 200 Millionen für | |
das Programm zur Verfügung zu haben. | |
Aber Sie geben auch Lebensmittel-Voucher aus? | |
Nein, Voucher sind wie Geld, passivierend. Außerdem gibt es dabei die | |
Gefahr der Stigmatisierung aber auch der Korruption. Wir haben stattdessen | |
die „Solidarity Card“ eingeführt, eine Art soziale Kreditkarte in | |
Kooperation mit unserer Staatsbank. Wir überweisen am Anfang des Monats 16 | |
Millionen an die Bank, wobei jedem Kartenbesitzer 70 bis 220 Euro zustehen, | |
je nach Größe der Familie. Die anderen Banken haben gemerkt, dass da | |
frisches Geld fließt und machen nun entsprechende Angebote für die | |
„Solidarity Card“-Besitzer, wie zum Beispiel einen Haircut für | |
hochverschuldete Kunden. Und jetzt machen sogar Mobilfunkunternehmen, | |
kleine Läden und Supermärkte neue Angebote für die Kartenbesitzer, da sie | |
in ihnen neue Kundschaft sehen. | |
Das klingt beindruckend, aber wie wollen Sie weiter darin investieren, der | |
Staat hat doch kein Geld? | |
Das wichtigste ist, dass wir als Gesellschaft zusammenhalten und mit jedem | |
potentiellen Opfer der Krise ehrenvoll umgehen. Das ändert die Menschen | |
selbst. Dann planen wir natürlich die Reichen zu besteuern, wir sind für | |
die Ausweitung eines Steuersystems, das die Lasten gerecht verteilt. | |
Und wir haben viele Möglichkeiten zu agieren, ohne Geld in die Hand nehmen | |
zu müssen. Ein Teil unserer Agrarproduktion wird aufgrund von | |
EU-Regulationen sofort zerstört. Es ist aber Gesetz, dass 17 Prozent dieser | |
Produkte zu Solidaritätszwecken verwendet werden – das Land hat diese | |
Möglichkeit nie genutzt. Für deren Vertrieb kann ich das Militär verwenden | |
oder andere freiwillige Gruppen. Wir können sparen und klug wirtschaften, | |
weil wir nicht für alles Geld brauchen. Was wir brauchen ist die | |
Mobilisierung der Gesellschaft. Und so werden wir Wege finden zu überleben. | |
Wir werden nicht sterben mit oder ohne Euro. | |
Die EU will im Falle eines Grexit humanitäre Hilfe anbieten. Wie stehen Sie | |
dazu? | |
Wir werden sehen, ob sie meinen, was sie sagen oder nicht. Sicherlich | |
werden sie nicht aus Flugzeugen Essen und Medizin schmeißen. Jedenfalls | |
könnte ich mit den fünf Milliarden Euro an humanitärer Hilfe, die immer | |
genannt werden, ein ganzes neues Griechenland aufbauen. Wir werden diese | |
Mittel nicht einfach an die Bevölkerung verfüttern, sondern Arbeitsplätze | |
schaffen, in denen die Menschen selbst die Produkte, die wir brauchen, | |
herstellen können. | |
Was würde die Fortsetzung der Hilfsprogramme für ihr Ministerium bedeuten? | |
Und was ein Grexit? | |
Ich bereite mich auf das Gute und das Schlechte vor. Beide Optionen sind | |
sehr nah beieinander. Ich öffne deshalb die Augen für die Lösungen, die die | |
Gesellschaft gibt. Ich war zum Beispiel in einer Schule in einem sehr armen | |
Viertel, die ein sehr kluges System gefunden hat, um die Schüler zu | |
ernähren. Die Schüler bringen Tupperdosen mit, Lehrer und Eltern spenden | |
Lebensmittel und eine banachbarte Institution für Waisenkinder kocht daraus | |
1.500 Mahlzeiten, die die Kinder essen. Warum kann ich das nicht auch als | |
Ministerium organisieren, ich müsste nur die Lebensmittel zur Verfügung | |
stellen. Das ist eine andere Haltung zu Politik, die den Menschen Mut und | |
Hoffnung macht. | |
11 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Margarita Tsomou | |
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