Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Auswirkungen des Grexit-Pokers: Vor Ort in Griechenland
> Der Algenzüchter für Veganer kriegt sein Geld nicht, die Ingenieurin hat
> 600 Euro im Monat, der Ex-Kapitän in Rente will im Euro bleiben.
Bild: Einkäuferin vor einem geschlossenen Geschäft in Athen
Athen taz | Michalis Zulumidis klammert sich noch an den Traum, seine Firma
einmal seinen Kindern weiterzugeben. Aber so wie die Zukunft Griechenlands
momentan aussehe - fast jeder Vierte ist arbeitslos, unter den Jugendlichen
ist es sogar jeder Zweite - hat er da nicht viel Hoffnung. Der 46-Jährige
steht neben einem seiner großen Gewächshäuser in Seres im Norden
Griechenlands und fragt sich, wie lange er sein Geschäft noch halten kann.
Von seiner Bank, vom Staat hat er schon lang nichts mehr gehört.
Die Anfangseuphorie, die Griechenland nach den Wahlen im Januar beseelte,
ist verflogen. Kaum einer glaubt noch, dass die neue Regierung unter
Linken-Chef Alexis Tsipras die im Wahlkampf so oft proklamierten Reformen
durchsetzen kann. Am Montag ist wieder einmal ein Verhandlungs-Showdown auf
dem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Sie beharren
bisher auf Austeritätspolitik.
Die Regierungspartei Syriza betont weiterhin, einen neuen Sparkurs nur so
anzulegen, dass dieser nicht abermals die größtenteils verarmte
Mittelschicht trifft. Ende des Monats droht der Staatsbankrott, wenn
fällige Kredite nicht umgeschuldet werden. Während die Politik diskutiert
und nicht zum Ergebnis kommt, hängt die Bevölkerung Griechenlands in der
Luft.
## Die Mikroalgen warten auf das Geld der Bank
Auch Michalis Zulumidis. In den langen Pools unter den Plastikdächern
seiner Firma Spirulina wachsen Mikroalgen, die getrocknet und zu Tabletten
gepresst als Nahrungsergänzungsmittel etwa bei Veganern beliebt sind.
Seit knapp 20 Jahren existiert das Unternehmen bereits. Eigentlich wollte
der dreifache Familienvater im nächsten Jahr weiter expandieren und nahm an
dem von der Europäischen Union geförderten Investitionsprogramm EPAL teil.
„Doch momentan geben die Banken hier das Geld der EU nicht an mich weiter.
Das wird von denen sicherheitshalber einbehalten, um potentiell Renten und
Löhne bezahlen zu können. Ich bin allerdings auch auf das Geld angewiesen,
um mein Unternehmen weiter betreiben zu können“, so Zulumidis.
Die griechischen Banken handeln autonom. Er habe sich im April an den Staat
gewendet, aber bisher keine Antwort bekommen, berichtet er weiter. „Indem
die Firma expandiert“, erklärt Zulumidis, „wird der Umsatz angekurbelt, was
dem Staat mehr Steuern einbringt. Indem die Banken allerdings vielen von
uns Unternehmern im Lande Geld vorenthalten, arbeiten sie gegen sich.“
Viele der Unternehmer gehen pleite, die Arbeitslosigkeit steigt weiter und
der Staat verliert zahlreiche Steuerzahlungen.
Noch kann sich Zulumidis mit seiner Firma halten. „Wenn es allerdings zum
Grexit kommen sollte, dann ist das auch nicht mehr sicher“. Wenn die
Kaufkraft im Lande nochmal zurück geht, wer kauft dann noch seine
Tabletten? Er weiß: Sie sind ein Luxusgut.
Dabei sah es landesweit im vergangenen Jahr ganz gut aus: Im Jahr 2013
meldete die Statistikbehörde Eurostat noch 12,3 Prozent Neuverschuldung,
für 2014 fiel die Quote auf 3,5 Prozent. Sogar eine minimale Erholung im
Haushaltsdefizit Griechenlands konnte im Vergleich zum Vorjahr festgestellt
werden: 2013 lag das Defizit bei minus 3,5 Prozent, im Jahr 2014 nur noch
bei minus 2,1 Prozent. Die erlaubte Defizitgrenze, die im Vertrag von
Maastricht festgehalten ist, beträgt minus 3,0 Prozent. War das
Wirtschaftswachstum im Jahr 2013 um knapp vier Prozent stark
zurückgegangen, so wurde im Jahr 2014 laut Eurostat ein Plus von 0,8
Prozent verbucht.
## 600 Euro und der Vertrag für ein halbes Jahr
Mit dem realen Leben der griechischen Bevölkerung haben diese statistischen
Wachstumsschübe allerdings nichts zu tun. Da ist sich Dimitra Kitzou
sicher. Die 38-Jährige ist gerade von der Arbeit nach Hause gekommen. Acht
Stunden täglich, bei 600 Euro Gehalt. Die Frau mit den rot gefärbten Locken
lacht bitter auf. Kitzou ist promovierte Ingenieurin, nun arbeitet sie als
einfache Kundenbetreuerin bei den staatlichen Wasserwerken.
Doch sie sei froh, überhaupt einen Job gefunden zu haben, auch wenn sie von
den 200 Euro im Monat, die ihr nach Abzug von Steuer, Strom und anderen
Fixkosten noch bleiben, kaum leben kann. Außerdem ist ihre Stelle auf ein
halbes Jahr befristet. „Diese kurzen Verträge bieten gar keine Sicherheit,
aber der Staat will sich gerade jetzt nicht auf Langzeitverträge
einlassen“, so Kitzou. Die politische Lage macht ihr große Sorgen. „Ich
lebe hier nur noch von Tag zu Tag, drehe jeden Pfennig um und mache keine
Pläne mehr.“
## Der Kapitän kriegt die halbe Rente
An Pläne denkt auch Kostas Diamandis nicht mehr. Der 68-jährige Rentner
sitzt im Wohnzimmer seines großzügig eingerichteten Hauses etwas außerhalb
des Athener Zentrums. Früher hat er als Kapitän gearbeitet, verdiente gutes
Geld. 2.500 Euro zahlte er monatlich in die Rentenversicherung. „Heute
bekomme ich nur noch 1.100 Euro ausgezahlt“, seufzt Diamandis. Im Zuge der
Sparpolitik wurde seine Rente immer wieder gekürzt, insgesamt um rund 60
Prozent.
Dass es die neue Regierung nicht noch weiter an der Schraube dreht - daran
glaubt er nicht mehr. „Ich war von Anfang an skeptisch - die Syriza haben
schon im Wahlkampf den Mund zu voll genommen“, sagt er. All diese
Versprechungen, das können sie nicht einhalten, ist er sich sicher.
„Ich bin, wie die meisten hier im Lande, gegen einen Austritt aus der
Eurozone. Das würde uns Jahre zurückwerfen“, sagt der Ex-Kapitän. Auf der
anderen Seite: Weitere Kürzungen würden ihn in die völlige Armut treiben.
Wieder seufzt er. „Offene Rechnungen an die Banken zahle ich momentan
nicht, das ist, als ob man Geld in ein schwarzes Loch wirft“.
## Eine Milliarde Euro pro Tag
Generell scheint die griechische Bevölkerung momentan lieber zu sichern,
was sie noch hat. Zwar dementiert die Regierung die Gerüchte, dass sie
Kapitalverkehrskontrollen, mit denen der Geldabfluss geregelt werden soll,
verhängen will. Dennoch haben Bürger und Unternehmen in den ersten fünf
Monaten des Jahres 29,4 Milliarden Euro von ihren Konten abgehoben, wie die
griechische Zentralbank eben bekannt gab. Tendenz steigend: Seit Mitte der
Woche sind es täglich knapp eine Milliarde Euro, heißt es aus
Bankenkreisen.
„Das Vertrauen der Bevölkerung in das System Europa schwindet“, seufzt
Diamandis. Aber solange die EU und Tsipras verhandeln, habe er noch
Hoffnung auf eine Einigung, die Griechenland in der Eurozone behält. Das
wollen nach Umfragen des griechischen Meinungsforschungsinstituts GPO auch
69,7 Prozent der GriechInnen - was immer es koste.
21 Jun 2015
## AUTOREN
Theodora Mavropoulos
## TAGS
Eurokrise
Schwerpunkt Krise in Griechenland
Schwerpunkt Krise in Griechenland
Schwerpunkt Krise in Griechenland
Griechenland
Schuldenkrise
Griechenland
EU
Griechenland
Griechenland
Griechenland
EU-Finanzpolitik
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Streitfrage: Ist Urlaub in Griechenland jetzt Pflicht?
Wenn die Krise Ferien macht: Sollten wir nach Griechenland in den Urlaub
fahren, um den Menschen zu helfen?
Unterwegs in Athen: Ein heilloses Durcheinander
Die Lage wird immer unübersichtlicher: So werden auf einer Pro-EU-Demo in
Athen Linksautonome von Syriza-Anhängern als „Faschisten“ beschimpft.
Kommentar zum Griechenland-Gipfel: Friss oder stirb
Die Eurogruppe hat kühl kalkuliert, dass Tsipras irgendwann einlenken muss.
Trotzdem ist es falsch, von einem Triumph zu sprechen.
EU-Sondergipfel in Brüssel: Ringen mit und um Griechenland
Athen legt neue Reformvorschläge vor, den Geldgebern ist das noch nicht
genug. Die Beteiligten hoffen auf eine Einigung noch in dieser Woche.
Berichterstattung über Griechenland: Tsipras und die „Rote Betty“
Einige Medien meinen erkannt zu haben, warum Tsipras sich der EU nicht
beugen will. Sie greifen zum Klischee aller Erklärungen: Die Frau ist
schuld.
Reform der Währungsgemeinschaft: Nie wieder Eurokrise?
Gemeinsames Finanzministerium inklusive: Fünf EU-Präsidenten legen einen
Plan für die Währungsunion vor – mitten im Showdown um Griechenland.
EU-Gipfel zu Griechenland: Neue Liste sorgt für versöhnliche Töne
Der Streit Griechenlands mit seinen Gläubigern droht in einer Staatspleite
zu enden. Ein neues Angebot Athens könnte die trübe Stimmung wenden.
EU-Sondergipfel Griechenland: Es geht immer weiter
Das Treffen der Euro-Finanzminister zu Griechenland verlief erfolglos. Nun
soll im Schuldenstreit auf einem Sondergipfel weiter beraten werden.
Die Wahrheit: Licht im Pferd
Kurz vor dem Grexit überschlagen sich die Metaphern in der
Berichterstattung über das hellenische Schuldendebakel.
Finanzministertreffen in Luxemburg: Fünf Szenarien für Griechenland
Griechenland droht die Staatspleite – wenn nicht doch eine Lösung im
Schuldenstreit gefunden wird. Noch geht das Ringen weiter.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.