| # taz.de -- Die Wahrheit: Wiedersehen mit Weltkriegen | |
| > Wer sich erinnerungstechnisch und familiär bedingt in Kriegszusammenhänge | |
| > begibt, den holt unversehens die Realität ein. | |
| Bild: Laut Isaac Davis, Protagonist in Woody Allens „Manhattan“, ein gutes … | |
| Jede Geschichte, die ich erzähle, ist wahr. Diese hier entspricht sogar | |
| ausnahmsweise der Wirklichkeit der Fakten. Steigen wir ein. | |
| Zunächst sei den Jüngeren erklärt, dass Männer sich früher in der Regel zu | |
| entscheiden hatten, ob sie zur Bundeswehr gehen oder den Kriegsdienst | |
| verweigern. Letzteres tat ich 1979. Vorletzte Woche scannte ich im Kontor | |
| das Tagebuch meines Großvaters väterlicherseits, das er im Ersten Weltkrieg | |
| als Kommandeur eines Batallions hinterlassen hatte. Geboren wurde er 1869. | |
| Freud war dreizehn Jahre alt, Marx hatte zwei Jahre zuvor den ersten Band | |
| des „Kapital“ veröffentlicht. | |
| Nicht nur die handschriftlichen Aufzeichnungen seines Vaters hatte mein | |
| Vater (1916-2013) abgetippt, sondern auch die eigenen, darunter die | |
| Schilderung seiner Gefangenschaft und Flucht 1944 bis 1946 in Rumänien, wo | |
| er als Kampfpilot stationiert war. | |
| Plötzlich drang der Krieg von außerhalb ein, geriet der Arbeitstag in eine | |
| sonderbare Konstellation: Dieweil ich die Notizen der Vorfahren mittels | |
| Texterkennung begradigte und Tippfehler stillschweigend korrigierte, sprach | |
| sich in dem Bürotrakt herum, dass der Stadtteil zu verlassen sei. Heute. | |
| Evakuierung heißt das Fachwort. Bauarbeiter hatten morgens den Blindgänger | |
| einer Fliegerbombe entdeckt. Mit uns waren rund 31.000 Zeitgenossen von der | |
| Räumung betroffen, so viele wie nie hierorts seit der Befreiung. | |
| Das Kontinuum von Zeit und Raum brach auf, denn ich hielt mich ja sowieso | |
| in den Weltkriegen auf, übrigens beide begonnen von Deutschland. Von | |
| zwanzig Uhr an war das Stück, in dem auch meine Mansarde liegt, zu räumen. | |
| Abends war ich ohnehin jenseits eingeladen. Gegen Mitternacht würde ich | |
| dann zurück schleichen, eine Lücke erspähen, schließlich bin ich ein | |
| beinharter, einfallsreicher Rechercheur. | |
| Die Aktion scheiterte. Mit solchen Deppen wie mir kennen sie sich aus. Sie | |
| hatten die Grenzlinie so angeordnet, dass sie möglichst wenige | |
| Kontrollpunkte benötigten. Noch der letzte Pfad war bewacht. Mein Plan B | |
| stellte sich als nächste unbeschwerte Einfalt heraus, als ich einem | |
| Polizisten meinen Journalistenausweis zeigte. Der fragte spöttisch: „Na, | |
| was glauben Sie, wie viele Journalisten würden hier wohl gerne eindringen?“ | |
| Schließlich trollte ich in eine Kneipe am nördlichen Zonenrand, wo sich | |
| unter manchen Evakuierten eine Stimmung ausdünstete, die nach | |
| Lageraufenthalt roch. Um drei Uhr morgens endete der reloadete Krieg. | |
| Am 17. April 1915 notiert der Großvater, es sei „alles alarmbereit“. Um | |
| zehn „schießt die Artl. auf den Waldsaum.“ Und so weiter. Der letzte | |
| geborgene Eintrag stammt vom 21. April: „Regenwetter“. Er fiel ein Jahr | |
| später. Seinen Sohn hat er nie gesehen. | |
| Der unterstützte mich bei meiner Verhandlung zur Kriegsdienstverweigerung | |
| als Zeuge. Es klappte. Das Kreiswehrersatzamt aber war schlauer. Es | |
| verschwieg, das ich nicht genommen worden wäre, weil meine beiden Brüder | |
| beim Bund gewesen waren. Meine Enkelin lacht darüber. Zu Recht. | |
| 2 Jun 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Dietrich Zur Nedden | |
| ## TAGS | |
| Weltkrieg | |
| Familiengeschichte | |
| Fische | |
| USA | |
| Theorie | |
| Flüchtlinge | |
| Silvester | |
| Fußball-WM 2014 | |
| Narzissmus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Die Wahrheit: Wenn Fische Hunde küssen | |
| Der Wellnesswahn geht weiter, immer weiter. Im norddeutschen Raum pediküren | |
| jetzt Fische Menschenfüße. | |
| Die Wahrheit: Grand Tour durchs Land der Coca-Cola | |
| Im Jahr 1935 begaben sich zwei Sowjetsatiriker auf eine Reise durch die | |
| USA. Jetzt wird die Fahrt durch „das eingeschossige Amerika“ wiederholt. | |
| Die Wahrheit: Englisch, Denglisch, unumgänglich | |
| Bei der korrekten Verwendung englischer Ausdrücke im Deutschen ist | |
| vielfältiges Hintergrundwissen gefragt. | |
| Die Wahrheit: Automobile in meiner Mansarde | |
| Was hilft gegen Ausländerfeinde? Artikel, Satiren oder Steine? Und was | |
| haben Garagen im Kapitalismus damit zu tun? | |
| Die Wahrheit: Schlichter Dichter | |
| Bei Geselligkeiten wird es oft in der Küche vermeintlich tiefschürfend, | |
| doch generell gilt: Je simpler gestrickt, desto wirkungsvoller. | |
| Die Wahrheit: Die Schöne und der Runzlige | |
| Selten verläuft Silvester ungeplant. Und falls doch, kann es zu | |
| herzzereißenden Begegnungen kommen. | |
| Die Wahrheit: Nicht jeder Profi ist ein Killer | |
| Auch bei der WM zeigt sich wieder, was Lichtenberg längst wusste: Die | |
| professionelle Ausübung einer Tätigkeit macht noch nicht den Experten aus. | |
| Die Wahrheit: Narretei über den Narzissmus | |
| Mit dem Ich ist es so eine Sache für mich. Wie unterscheide ich | |
| Selbstverliebtheit von Narzissmus und anderen Regungen? |