# taz.de -- Die Wahrheit: Schlichter Dichter | |
> Bei Geselligkeiten wird es oft in der Küche vermeintlich tiefschürfend, | |
> doch generell gilt: Je simpler gestrickt, desto wirkungsvoller. | |
Es hatte sich so ergeben. Man saß in der Küche von K., Freunde und Freunde | |
von Freunden. Manche von ihnen hatte man seit zehn, fünfzehn Jahren nicht | |
gesehen, es erwiesen sich Querverbindungen sonder Zahl. Irgendwann drehte | |
sich das Palaver um gemeinsame Bekannte, die nicht zugegen waren. Eine etwa | |
wurde als genial bezeichnet, eine als bescheuert, ein anderer galt als | |
dumm, der nächste als luzide oder idiotisch. | |
In der Hoffnung, pastoral zu bezaubern, warf ich in dieser Phase eine Szene | |
aus dem Klassiker „Manhattan“ ein, einer der besten Filme von Woody Allen. | |
Die hysterisch-zappelige Kunstsalon-Tussi Mary (Diane Keaton) sagt zu Issac | |
(Allen) über ihren Exmann: „Ich war es leid, meine Identität einem sehr | |
brillanten, dominanten Mann unterzuordnen. Er ist ein Genie.“ Issac gibt zu | |
bedenken: „Ach so, er ist ein Genie, Ellen ist ein Genie und Denis ist ein | |
Genie. Du kennst ja sehr viele Genies. Du solltest mal ein paar dummen | |
Menschen begegnen. Da könntest du noch etwas lernen.“ | |
Ich hatte inzwischen geahnt, dass ich offene Türen einrennen würde. Und so | |
war es denn auch. Es hat sich herumgesprochen, dass Kategorien wie diese | |
uns nicht weit bringen, sofern sie als Merkmal gelten statt als ein | |
Verhalten, das von Situationen abhängig sind. | |
Benachbart zu dieser mehr oder minder brillanten Einsicht jedoch fiel mir | |
die Bemerkung eines Theaterautors auf, den ich neulich sagen hörte, wenn er | |
es rational betrachte, könne er sich manchmal nicht so ernst nehmen. Nur | |
das „manchmal“ störte mich, und wenige Minuten später spann sich seine | |
Bemerkung für mich radikaler fort: rational betrachtet ist man ein Depp, | |
meistens. | |
Von dort aus leuchtete eine Erinnerung auf, die intuitive Intelligenz quasi | |
packte eine Episode aus, die etwa zwei Jahre alt sein dürfte. Ich | |
assistierte einem recht bekannten Autor dabei, im Tonstudio einen | |
Radio-Beitrag aufzunehmen. Er kommentierte frei improvisierend einige | |
Gedichte, die er ausgewählt hatte. Nach einem Take von fünf oder sieben | |
Minuten hob er den Kopf vom Mikro, öffnete die Augen und fragte in den | |
Regieraum: „Habe ich gerade vollendeten Unsinn erzählt oder nicht?“ | |
Man kann sich vorstellen, seine Offenheit machte den Mann noch | |
sympathischer als ohnehin. | |
Wir kreisen den Komplex „Intelligenz“ nun aus einem weiteren Blinkwinkel | |
ein, wie es der italienische Schriftsteller, Maler und Komponist Alberto | |
Savinio unter dem Stichwort in seinem privaten Lexikon formulierte: „Die | |
Schäden, die aus einer unvollkommenen Intelligenz erwachsen, sind so viel | |
größer als die, die aus einer klaren und friedfertigen Dummheit herrühren.“ | |
Das Motiv-Knäuel entwirren wir schließlich mit einem Griff in den | |
hauseigenen Ordner namens „Lyrische Brosamen“. Denn wie so oft fasst ein | |
Zweizeiler nach dem Motto „Je schlichter, desto dichter“ das Gebilde | |
zusammen: „Mal ist man schlau, mal ist man dumm / man staunt so durch die | |
Welt herum.“ | |
Na, wer sagt’s denn. Beziehungsweise: Hätte ich, statt die Autorität Woody | |
Allen zu zitieren, meine Verse in der Küche von K. vorgetragen, wäre ich | |
schön dumm rübergekommen? | |
1 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Dietrich zur Nedden | |
## TAGS | |
Weltkrieg | |
Silvester | |
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