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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Schöne und der Runzlige
> Selten verläuft Silvester ungeplant. Und falls doch, kann es zu
> herzzereißenden Begegnungen kommen.
Wir mussten uns die Spanne bis zum Jahreswechsel vertreiben, Elisa und ich.
Zwei, drei Stunden waren zu überbrücken. Doch was heißt schon „mussten“?…
war mir ein Vergnügen. Und ihr?
Elisa wohnt seit Kurzem hier, ihre Mansarde liegt zwei Schritte neben
meiner. Am Silvesterabend gegen neun preschte ich nach Hause, um schnell
drei weitere Flaschen Cremant zu holen für die ungeplante Party bei Jutta.
Aufwärts gehechelt, hörte ich vor dem Öffnen meiner Wohnungstür lautes
Schluchzen. Ein heftiges, ein herzzerreißendes.
Ich klopfte vernehmlich nebenan, sie riss die Tür auf, sah mich – und ich
ihre Enttäuschung. Verzagt wandte sie sich ab. Es brauchte keine Minute, um
die Lage zu klären. Ihr Freund war vor einer Stunde abgehauen. Im Nu
betrachtete ich es als meine Pfadfinder-Pflicht, auch an Silvester eine
gute Tat zu tun, nämlich ihre Stimmung aufzuhellen. Bloß wie? Sie mitnehmen
auf die Party bei Jutta, oder?
Indes deutete sie auf einen Sessel, ich setzte mich und köpfte eine
Flasche. Taktisch hielt ich es für ratsam, die Erkundigung nach dem Abgang
des Liebhabers zu übergehen, stattdessen die Kunst des konversierenden
Umleitens zu praktizieren. Finstere Vorgänge ließ ich natürlich weg.
Sonst hätte ich von dem Groll gesprochen, den ich gehegt hatte: Das Unglück
der Touristenfähre im Mittelmeer war ewig die Topmeldung in den
Nachrichten, sonst aber wurden für gewöhnlich Tote im Mittelmeer –
Ertrunkene oder Verhungerte, die mit einer Flüchtlingsschaluppe Europa
erreichen wollten – selten erwähnt. Und wenn, dann nicht als Aufmacher,
sondern kurz vor dem Wetter.
Elisa trank das Glas aus, weinte nicht mehr. Tolpatschig probierte ich
dies: „Was meinst du, welcher der Sätze trifft als Leitgedanke besser?
’Nimm dein Leben wichtig, aber nicht zu ernst‘ oder ’Nimm es ernst, aber
nicht zu wichtig‘?“
Oh nein, dieser Vorschlag war nicht auf jenen Liebeszwist zu beziehen.
Elisa murmelte immerhin: „Weiß nicht. Ist beides Scheiße.“ Der nächste
Versuch scheiterte ebenso, denn sie ist nicht nur einen Kopf kleiner als
ich, sondern auch zwanzig Jahre jünger und kennt nicht den Spielfilm „Im
Lauf der Zeit“ von Wim Wenders, der 1976 ins Kino kam.
Neulich schnappte ich auf, dass er damals ab 18 Jahre freigegeben wurde,
seit 2005 aber ab 6, und ich hatte vage über die Veränderung der
Sehgewohnheiten philosophiert. Wegen des Altersunterschieds und um ein
Missverständnis zu vermeiden, behielt ich anschließend den Film mit
Geraldine Chaplin für mich: „Elisa, mein Leben“, so der Titel.
Nun fiel mir ein, dass diese Elisa bei einer Plauderei im Treppenhaus
gesagt hatte, sie studiere Deutsch und Geografie auf Lehramt. Ich fragte:
„Hast du’s mitgekriegt, dass die Meteorologen eine neue Wolkenklasse namens
Undulatus asperatus in den offiziellen Atlas aufnehmen wollen? Die
aufgeraute Wellige, die Runzlige …“
Da lachte sie endlich. Ein’ hamm wa noch, ein’ hamm wa noch, dachte ich
entzückt, doch es klingelte. Ja, genau, ihr Freund war zurückgekehrt,
grinste sie reumütig an. Kurz vor zwölf trollte ich mich von dannen.
7 Jan 2015
## AUTOREN
Dietrich zur Nedden
## TAGS
Silvester
Beziehungskrise
Kommunikation
Wim Wenders
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Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
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