# taz.de -- Die Wahrheit: Ein grober Klotz aus reinem Nichts | |
> Es gibt Tage wie die vom 1. bis zum 49. April, die manchmal zu Monaten | |
> oder Jahren anschwellen. Und Wolfenbüttel ist überall. | |
Bild: Blick in die Bibliothek: Ein Alchemisten-Traktat versprach 1618 Irrtümer… | |
„Tastenficker“, „Mein Leben als Affenarsch“, „MösenMonat März“ �… | |
der zwei aktuellen Buchtitel und jener Veranstaltungsreihe könnte ich | |
womöglich erforschen, seit wann Redaktionen Begriffe dieser Art drucken | |
anstatt sie durch Auslassungspunkte zu ersetzen oder zu ignorieren, | |
verstünde ich mich als feinsinnigen Menschen. Danach unterhielten wir uns | |
über Bedeutungswandel, über vermeintliche Freizügigkeit, dito Vulgarität, | |
dito Enttabuisierung und so weiter. Da ich mich aber eher als groben Klotz | |
empfinde, lasse ich diesen, ähem, Diskurs beiseite. | |
Es gibt Tage wie die vom 1. bis zum 49. April, die manchmal zu Monaten oder | |
Jahren anschwellen, da interessiert einen auch weder die | |
Mautgebühr-Kontroverse noch die um das neue Album von Madonna. Gleichfalls | |
misslingt mir, eine Gender-Debatte heraufzubeschwören angesichts der | |
Weigerung Andreas Kümmerts, trotz erfolgreichen Votings für Deutschland zum | |
Eurovision Contest nach Wien zu fliegen. | |
Die Songs von Kümmert hab ich mir bislang nicht angehört. Stattdessen kam | |
mir ein Lied in den Sinn, das um etliche Jahrhunderte älter ist als die | |
Stücke vom Eurovision Contest. Es hat ein Adliger namens Guilhèm gedichtet, | |
der von 1071 bis 1127 lebte. Das Lied eröffnet er so: „Ich mach ein Lied | |
aus reinem Nichts / Von mir nicht und von keinem spricht’s / Nicht | |
Liebeslied, nicht jugendlich / Noch irgendwas. / Ich hab’s im Schlaf | |
gemacht, als ich / Im Sattel saß.“ | |
Nachdem ich verschlafen vom Fahrradsattel absteige, frage ich mich aus | |
reinem Nichts, ob ich eine Chance erwische, mit diesem leichtfüßigen Lied | |
beim nächsten Contest teilzunehmen. Oder: Schaffen es Madonna und ihre | |
Produzenten, das Lied packend zu verwursten? Niemand erwidert. | |
Plötzlich rollen wir aus dem 12. Jahrhundert unserer Zeitrechnung geschwind | |
ins 18. Jahrhundert, warum weiß ich jetzt auch nicht. Vielleicht, weil es | |
viel einfacher ist, eine Story zu schreiben, die in null Komma nichts durch | |
die Äonen reist, als etwa einen Film zu drehen, der das tut. Nicht nur | |
einfacher, sondern obendrein preiswerter! | |
Der Text, auf den ich nun stoße, ist präzise einem Jahr zuzuordnen, nämlich | |
1772. In dem Jahr erschien übrigens die erste Übersetzung des Korans direkt | |
aus dem Arabischen ins Deutsche: „Die türkische Bibel“. Doch das lassen wir | |
am Rande stehen, wenden uns einem Brief vom 1. Mai 1772 zu, den der Autor | |
Gotthold Ephraim Lessing an Eva König schickt. Er arbeitet zum Broterwerb | |
als Bibliothekar in Wolfenbüttel. Von dort aus schreibt Lessing die | |
folgenden Sätze, die ich gefunden habe, ohne sie zu suchen: „Ich will hier | |
sein, wie wir überhaupt in der Welt sein sollten: gefasst, alle Augenblicke | |
aufbrechen zu können, und doch willig, immer länger und länger zu bleiben.“ | |
Wie wir nun zum Ausgangspunkt ins 21. Jahrhundert zurückgelangen, überlasse | |
ich basisdemokratisch den Lesern selbst. Es ist ja bloß ein Text um nichts, | |
dem allerdings doch unvermeidlich ein wenn auch winziger Nutzwert | |
innewohnt. Hier ist er: Wolfenbüttel ist überall. | |
1 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Dietrich zur Nedden | |
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