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# taz.de -- Die Wahrheit: Narretei über den Narzissmus
> Mit dem Ich ist es so eine Sache für mich. Wie unterscheide ich
> Selbstverliebtheit von Narzissmus und anderen Regungen?
Ausnahmsweise eröffnen wir mit einer scheinbar tonnenschweren Frage. Sie
flackerte auf, als wir jüngst den, in der Presse als „legendär“, „berü…
„unsterblich“ titulierten Anfang des Tagebuchs von Witold Gombrowicz
entdeckten. Der Satz ist „längst zum literaturhistorischen Bonmot“
geworden: „Montag: ich, Dienstag: ich, Mittwoch: ich, Donnerstag: ich“.
Dieser programmatische Einstieg des polnischen Autors verlockt uns in
unserer Eigenschaft als Küchen- und Kellerpsychologe zu nachfolgender
Erkundung. Wenn jemand Jegliches mit „ich“ einleitet, ausschließlich über
ein „Ich“ spricht, handelt es sich dabei um Narzissmus? Und wenn ja, wie
unterscheiden wir Narzissmus von Selbstverliebtheit, Egomanie, Eitelkeit,
Stolz?
Statt eine Antwort zu schnitzen – die niemanden interessiert, weil wir
längst den Durchblick haben, dass sich jeder, jede in zahllose Ichs
aufspaltet, es gehört gleichsam zum guten Ton –, flüchten wir in eine
Wissenschaft logischer Definitionen. Man nennt sie Mathematik. In der
Mathematik gibt es nämlich narzisstische Zahlen. Gemeint sind Zahlen, die
sich auf bestimmte Weise selbst erzeugen. Das erste nichttriviale Beispiel
ist die 153. Die Regel lautet: Die Summe der Ziffern, jeweils potenziert
mit der Stellenanzahl der Zahl, ergibt wieder die Zahl: 1 hoch 3 + 5 hoch 3
+ 3 hoch 3 gleich 1 + 125 + 27 gleich 153. Was möchte uns diese Entdeckung
sagen? Nichts. Diese Sorte Narzissten lässt die wissenschaftliche
Mathematik kalt, sie taugen nichts, höchstens für die Matherätsel-Kolumnen
in Wochenendbeilagen.
Um weitere logische Verknüpfungen zu meiden; um den heillosen
Rettungsversuch in die fröhlichen und glücklichen Zahlen zu verhindern –
ja, die gibt es! –, wenden wir uns wieder an die sogenannte Geisteswelt.
Nehmen jedoch nur am Rande Notiz von Robert Gernhardts erstem Roman mit dem
Titel „Ich Ich Ich“, der immerhin ein Ich weniger aufreiht als der
Tagebucheintrag von Gombrowicz. Und bedienen uns stattdessen für ein
vorläufiges Resümee dieses Narziss-Diskurses eines Essays von G. K.
Chesterton, dem Autor der Kriminalgeschichten um Father Brown. Chesterton
ist auch in das „Handbuch des Antisemitismus“ aufgenommen; dies zu
erklären, führte aber hier zu weit.
Der Brite hält Eitelkeit und Stolz auseinander, grenzt sie voneinander ab.
Eitelkeit sei „etwas viel Weiseres und Kraftvolleres“ als Stolz. Warum? Der
Eitle begehre den Applaus des Publikums, „Eitelkeit ist gesellig“, Stolz
hingegen „einzelgängerisch und unzivilisiert“. Eitelkeit ist „tatkräfti…
Stolz hingegen „untätig“, denn er „begehrt nur den Beifall einer einzigen
Person, und den hat er bereits.“ Chesterton deutet einen weiteren Kontrast:
„Eitelkeit ist humorvoll und kann sogar über sich selbst lachen; Stolz ist
fade und bringt nicht einmal ein Lächeln zustande.“
Hier bleiben naturgemäß wichtige Fragen offen. Jene zum Beispiel, wie
Witold Gombrowicz Freitag bis Sonntag verbracht haben mag. Notierend
vermutlich. Wie ich.
4 Mar 2014
## AUTOREN
Dietrich zur Nedden
## TAGS
Narzissmus
Weltkrieg
Sprachkritik
Vampire
Arno Schmidt
Individualisierung
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