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# taz.de -- Die Wahrheit: Interdisziplinäre Allerweltsweisheiten
> Ein Gemeinplatz ist kein Alleinstellungsmerkmal und bedarf dringend eines
> Grundsatzurteils aus dem Reich der Interdisziplinarität ...
Nach längerer Pause stöberte ich neulich in dem hauseigenen Lexikon der
Mehrsilber herum, ein Lexikon, das in der deutschen Sprache mit Stichworten
bekanntlich reich gesegnet ist.
Zwei Sechssilber fielen mir diesmal auf, nicht die frischesten Exemplare
zugegeben, jedoch von jener Sorte Worte, die, je näher man sie ansieht,
desto ferner zurücksehen. Alleinstellungsmerkmal ist der eine Begriff, der
andere Einzelfallentscheidung. Die beiden haben ja irgendwie etwas
miteinander zu tun, berühren sich, stellen womöglich das Gleiche, wenn
nicht dasselbe dar, bloß aus unterschiedlicher Perspektive. Eine
Einzelfallentscheidung ist ohne Alleinstellungsmerkmal gewissermaßen gar
nicht denkbar.
Zu diesen beiden Sechssilbern gesellte sich wie von Ungefähr im Nu ein
Achtsilber, der sich gewaschen hatte. Ja, er drängte sich vollinhaltlich
auf, denn sowohl die Diagnose eines Alleinstellungsmerkmals als auch die
Basis einer Einzelfallentscheidung bedürfen der Grundsatzurteile aus dem
Reich der Interdisziplinarität. Heutzutage kann man über nichts mehr
diskutieren, ohne es interdisziplinär zu betrachten.
Wie anfangs erwähnt, schaute das Trio schließlich dennoch desto ferner
zurück, je näher ich mich ihm zuwandte. Um diesem Ablauf zu entgehen, griff
ich verlegenheitshalber zu einem anderen Werk im Regal der
Nachschlagewerke, nämlich zu einem aktuellen Wörterbuch der Gemeinplätze,
dem ebenfalls hauseigenen wohlgemerkt.
Darin befinden sich auch Allerweltsweisheiten, die man selbst zustande
gebracht hat. Beschämend, wohl wahr, aber wohl unvermeidlich. Ich klaubte
nun eine triviale Erkenntnis heraus: Tag für Tag häufen sich Absurditäten
und Bizarrheiten, die den meisten weder absurd noch bizarr erscheinen. Ist
demnach derjenige bescheuert, geradewegs pathologisch auffällig, der dieses
oder jenes als Bizarrerie wahrnimmt? Ich halte es jedenfalls für
einigermaßen bizarr, wenn Sound-Designer die Motorengeräusche von Autos
präparieren, um den Sinnen etwas vorzugaukeln.
Das ist nicht stets ihr Motiv, aber dann und wann: wie satt es sich anhört,
wenn man die Tür oder den Kofferraum schließt beispielsweise. Andere
Sound-Designer beauftragt die Lebensmittelindustrie, an Chips und
Butterkeks herumzupusseln, um entsprechende „gute Gefühle“ zu aktivieren.
Gewiss, wer solche Seltsamkeiten erwähnt, zählt zu den Einfältigen. Die
Einfalt jedoch ist bisweilen das Ergebnis langwieriger Untersuchungen. Es
gibt jene Anekdote von Gustave Flaubert, der übrigens ein Wörterbuch der
Gemeinplätze kreierte; sie stammt von Daniel Kehlmann, der sie womöglich
selbst erfunden hat.
Flaubert nimmt an einem Treffen seiner ehemaligen Schulklasse teil. Einer
der Mitschüler sagt krankheitshalber ab. Flaubert, der berühmte Autor,
zieht sich zurück, um Genesungswünsche zu verfassen, und ringt um die
richtige Formulierung, das mot juste womöglich. Stunden verstreichen.
Schließlich kehrt er zurück, völlig ermattet. Auf der Karte, die er zum
Unterschreiben übergibt, steht: „Gute Besserung!“
3 Jun 2014
## AUTOREN
Dietrich zur Nedden
## TAGS
Sprachkritik
Zeit
Fußball-WM 2014
Narzissmus
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