# taz.de -- Die Wahrheit: Splitterfasernackte Gedankensplitter | |
> Splitterfasernackt strahlte das Ergebnis der Suche im taz-Archiv. Kein | |
> einziger Gedankensplitter war je in die Wahrheit-Seite eingedrungen. | |
Man lernt ein Leben lang, und zwar wenig bis nichts. Mag dieser Sinnspruch | |
Unsinn sein, so hat er doch Methode. Aber welche? Dass man eine vertraute | |
Redewendung oder Phrase einfach in die Schräge kippt, oder? | |
Offenbar war ich in ein Selbstgespräch vertieft, während ich durchs | |
Quartier Richtung Innenstadt radelte. Na, vielleicht war es nicht ein | |
Gespräch zu nennen, korrigierte ich mich einige Minuten später, denn eher | |
flogen oder flatterten Gedankensplitter umher, schlugen durch Herz- und | |
Hirngeflechte, stießen auf Ablehnung oder Willkommen. | |
Zu jenem Unsinnspruch, den ich schlicht als Teaser eingesetzt hatte, | |
gesellte sich, zunächst schemenhaft, ein anderer Gedankensplitter hinzu, | |
eine Sentenz von Walter Serner, dem Dadaisten, Autor von | |
Kriminalgeschichten, Reisenden und Experten für Hochstapelei, der mit der | |
Maxime Betrug und Selbstbetrug treffend kommentiert hatte. Mittlerweile saß | |
ich draußen am Tisch vor dem Geschäft des Kaffeerösters, der Duft hatte | |
mich gleich bezirzt, es war wohl die Karlsbader Mischung. | |
Dennoch eilte ich zum Kontor, um Serners Wortlaut herauszufinden und | |
womöglich zu verwenden. Flugs hatte ich es auf dem Bildschirm. Walter | |
Serner hatte verlautbart: „Die Welt will betrogen sein, gewiss. Sie wird | |
aber ernstlich böse, wenn du es nicht tust.“ Nun gehören wir=alle sowohl zu | |
der Welt, die Serner zusammenfasst, als auch ist jeder von uns ein Du. Was | |
lernen wir daraus? – Aua! Der nächste Gedankensplitter bohrte sich in das | |
Eingeweide. | |
Im Nachhinein war die Einkehr ins Büro eine weise Entscheidung, denn aus | |
weiteren Recherchen – ich erinnerte mich an den Vorschlag von Thomas | |
Kapielski, Recherchen auszusprechen wie Nickerchen – schälten sich zwei | |
verblüffende Sachverhalte heraus. | |
Erstens stellte sich heraus, dass sich am 15. Januar der 125. Geburtstag | |
von Walter Serner gejährt hatte. Trotz der üblichen Flut an | |
Veröffentlichungen zu Gedenk- und Ehrentagen würdigten nur wenige | |
Publikationen Serner zu diesem Anlass. Das fand ich interessant. | |
Die nächste Merkwürdigkeit entsprang dem Spleen, gelegentlich nachzuprüfen, | |
wie oft Begriffe verwendet werden, auch an diesem Ort, auf der | |
Wahrheit-Seite. Da in meinem Schädel mehr oder minder häufig | |
Gedankensplitter wirbeln, nahm ich an, dass es auch anderen Zeitgenossen so | |
geht, wodurch der Begriff häufiger aufgetaucht sein müsste. | |
Doch siehe da: Niente, nichts, niemals; splitterfasernackt strahlte das | |
Ergebnis der Suche im taz-Archiv. Kein einziger Gedankensplitter war je in | |
die Wahrheit-Seite eingedrungen. | |
Was hätte Walter Serner dazu gesagt? Von 1927 an veröffentlichte er nichts | |
mehr, 1942 deportierten und ermordeten ihn die Nazis. Aus seinem Werk war | |
ein weiteres Postulat zu entnehmen, das jetzt mindestens als Epilog passte: | |
„Es gibt wohl kein schmerzlich schöneres Wort als Jubiläum. Es trägt die | |
Arbeit vieler, vieler Jahre auf den Armen und über seinen Augen hängt es | |
wie Wehmut.“ Bisweilen lernt man doch etwas. | |
3 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Dietrich zur Nedden | |
## TAGS | |
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Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
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Fußball-WM 2014 | |
Sprachkritik | |
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