| # taz.de -- Die Wahrheit: Stromabwärts im Raum-Zeit-Kontinuum | |
| > Was wir Wirklichkeit nennen, ist oft in konventioneller Lesart nicht zu | |
| > entziffern. Deshalb ab auf eine Insel! | |
| Neulich – es wird ein lauer Sommerabend gewesen sein – nähert sich ein | |
| Freund, seines Zeichens diplomierter Geologe, dem Bonner Rheinufer. | |
| Stromabwärts sieht er einen Frachter namens „Newton“. Einen winzigen | |
| Augenblick später fährt stromaufwärts ein Schiff namens „Einstein“ vorbe… | |
| Je nach Gemütslage des Betrachters ist diese Begegnung, so er sie überhaupt | |
| bemerkt, ein kurioser Zufall oder ein Wunder inmitten des Alltags. Der | |
| Freund wiederum hatte sich bereits bei dem Rendezvous mit „Newton“ gefragt, | |
| wie das Zeichen zu entziffern wäre. Nun hatte sich „Einstein“ dazugesellt! | |
| Zunächst also das klassische Konzept der absoluten Zeit und des absoluten | |
| Raumes, danach die Relativität des Raum-Zeit-Kontinuums jüngeren Datums. | |
| Diese physikalischen Begriffe kann unsereins zwar miteinander verknüpfen, | |
| versteht sie jedoch eher fragmentarisch. Immerhin fühlt man sich durch | |
| solche letztlich profanen Anekdoten bestätigt, dass nämlich das, was wir | |
| Wirklichkeit nennen, bisweilen sonderbarer anmutet, als es sich | |
| konventionelle Romane erlauben dürfen. Die müssen sich an | |
| Wahrscheinlichkeiten halten, die Wirklichkeit nicht. | |
| Nahe dieser Episode entsann ich mich des „Atlas der entlegenen Inseln“ von | |
| Judith Schalansky. Dem aparten Buch ist ebenfalls ein Stück Imagination auf | |
| einer realen Grundlage zu entnehmen. Es ist die Geschichte von Marc Liblin, | |
| geboren in den Ausläufern der Vogesen. Im Alter von sechs Jahren beginnen | |
| ihn Träume heimzusuchen, die ihn eine obskure Sprache lehren. Später zieht | |
| Liblin in die Bretagne. Als er 33 Jahre alt ist und noch immer das | |
| Vokabular beherrscht, möchten Wissenschaftler von der Universität Rennes | |
| dieses Rätsel lösen. | |
| Nach zwei unnützen Jahren warten sie eines Tages mit dem Einfall auf, | |
| Matrosen in Kneipen zu befragen, ob sie dieses Kauderwelsch an etwas | |
| erinnert. Liblin hält in seiner Traumsprache einen Monolog, ein ehemaliger | |
| Marineangehöriger unterbricht ihn. Er habe diese Sprache in | |
| Französisch-Polynesien gehört, genauer: auf der Insel Rapa Iti. Übrigens | |
| lebe eine Frau unweit in der Banlieue, die geschiedene Ehefrau eines | |
| Offiziers, die daher stammt. Nichts wie hin. Sie öffnet Liblin die Tür, er | |
| sagt Sätze in der Sprache, die ihm eingegeben ist, sie antwortet „in dem | |
| alten Rapa ihrer Heimat“. Sie heiraten und ziehen auf die Südsee-Insel, wo | |
| er 1998 stirbt, nachdem er dort 15 Jahre als Sprachforscher und Lehrer | |
| verbracht hat. | |
| Doch, doch, es gab diesen Mann. Er hat in Fachzeitschriften Artikel | |
| geschrieben, man stößt auf ein Foto, das ihn und Meretuini Make, seine | |
| Ehefrau, zeigen soll. Ob allerdings seine Version im Detail stimmig ist; | |
| vor welchem Hintergrund die Frau Liblins Sprache wahrhaftig identifiziert | |
| hat; was die Universität Rennes dazu sagt und weitere Fragen lassen wir an | |
| in diesem Fragment inmitten der Raumzeit offen. | |
| Eines bloß ist gewiss: Mitunter bewegen dich Gründe und Ereignisse, aus | |
| denen der Wunsch erwächst, auf eine Insel zu entfliehen, wie abgeschmackt | |
| dieser Wunsch auch sein mag. | |
| 5 Aug 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Dietrich zur Nedden | |
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