| # taz.de -- Die Wahrheit: Es geht uns besser und besser | |
| > Jede Individualisierung ist anders: Wer sich nach dem Lesen dieser | |
| > Kolumne nicht besser fühlt, dem ist auch nicht mehr zu helfen ... | |
| Die Individualisierung schreitet unerbittlich voran. Das Kleingedruckte auf | |
| der Packung einer Tiefkühl-Pizza namens „Mamma Gina“ kennt sich aus, weist | |
| darauf hin: „Jeder Backofen ist anders! Bitte beachten Sie bei der ersten | |
| Zubereitung die individuell benötigte Temperatur und Backzeit Ihrers [sic!] | |
| Ofens.“ | |
| Da scheinen sich die Backöfen mehr voneinander zu unterscheiden als „wir | |
| Menschen“. Trifft für „uns“ nicht weniger der Begriff der | |
| Individualisierung zu – der eklatante Diskrepanzen im Denken und Verhalten | |
| weismacht – als der einer Vereinzelung? Obendrein erschafft das digitale | |
| Netz für alle Beteiligten Profile, Muster. Das eine ähnelt dem | |
| übernächsten. | |
| Aber dies nur zum Einstieg. Bis hierhin erwecken die Zeilen – womöglich | |
| gemäß dem Vorurteil mancher Leser – den Anschein eines verschlungenen, | |
| labyrinthischen Gedankenganges. Mit gewichtigen Worten wie | |
| Individualisierung und so. Deshalb wenden wir uns vom Abstrakten ab und | |
| einem unserer Sinne zu, dem Augensinn. Werfen wir harmlos einen Blick aus | |
| dem Fenster. Präzise: schauen wir, einen Selbstgedrehten schmauchend, aus | |
| dem Fenster des Kämmerleins in unserem Bürotrakt, wo die Raucher rauchen | |
| dürfen. | |
| Am Rande sei in monströser Bescheidenheit erwähnt – und um die Impression | |
| anschaulich zu skizzieren: Ich habe satte acht Quadratmeter in einer | |
| Bürogemeinschaft gemietet – was vollkommen ausreicht: Nelly Sachs, die | |
| Literaturnobelpreisträgerin, dichtete, wie irgendwo zu lesen war, an einem | |
| Arbeitsplatz von lässigen vier Quadratmetern. | |
| Jetzt aber zum Fenster umdrehen. Vielleicht habe ich es mal angedeutet: In | |
| einem Altbau gegenüber befindet sich auf gleicher Höhe ein Fitness-Studio, | |
| das der Damenwelt vorbehalten ist. Die Fensterscheiben sind | |
| selbstverständlich zur Hälfte matt getönt, doch ist auf einer Wand in dem | |
| Raum ein großer Schriftzug zu lesen, der allen Anwesenden die Botschaft | |
| verkündet: „Es geht mir besser und besser.“ Sie traben auf Crosstrainern | |
| der Suggestion zugewandt: „Es geht mir besser und besser.“ | |
| Dieser Tonfall, der mit Individualisierung wohl wenig zu tun hat, erinnert | |
| mich reflexhaft an einen großen, weniger bekannten Film von Ernst Lubitsch, | |
| den Regisseur, den Sie hoffentlich –wenigstens durch seine Farce „Sein oder | |
| Nichtsein“ kennen. Es liegt etwa zehn Jahre zurück, als ich Lubitschs Film | |
| „Blaubarts achte Frau“ gesehen habe. Eine Szene gegen Ende hat sich | |
| unvergesslich eingeprägt. Gary Cooper, der einen Millionär darstellt, | |
| landet nach den Liebesscharmützeln mit Claudette Colbert in einem | |
| Sanatorium, einer vornehmen Irrenanstalt gewissermaßen. Er steckt in einer | |
| Zwangsjacke und zu seiner Therapie gehört eine Art Mantra: „Gestern war ein | |
| guter Tag, heute ist ein guter Tag, morgen ist ein guter Tag. Es geht mir | |
| gut, es geht mir gut, es geht mir sehr, sehr gut!!!“ | |
| Und jetzt alle im Chor, extrem individuell, auch Mamma Gina stimmt mit ein: | |
| „Heute ist ein guter Tag! Es geht uns besser und besser.“ – Spüren Sie e… | |
| Es flutscht, nicht wahr? | |
| 4 Dec 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Dietrich zur Nedden | |
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