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# taz.de -- Suche nach Raubkunst: Mit der Crowd auf Kunstjagd
> Reporter des Recherche-Start-ups „Follow the money“ suchen mit ihrem
> Publikum ein Gemälde, das 1938 viele Leben rettete.
Bild: Spätestens seit dem Fall Gurlitt wird wieder nach Kunst gefragt, die wä…
Kunst kann Leben retten. Nicht im poetischen Sinne, sondern ganz konkret.
Das Portrait einer Frau, die ein Buch hält, rettete mehr als 30 Leben. Das
war im Jahr 1938. Paula Engelberg nimmt in ihrer Münchner Wohnung das Bild
von der Wand und verlässt das Haus. Stunden später kommt sie ohne Bild,
aber mit einem Visum für die Schweiz zurück. Die Engelbergs sind Juden.
Zwei Wochen zuvor, am Morgen nach der Reichspogromnacht, ist Paula
Engelbergs Mann von der Gestapo festgenommen worden. Sie verschleppte ihn
ins Konzentrationslager Dachau. Mit dem Visum für die Schweiz geht Paula
Engelberg zur Gestapo. Sie bekommt ihren Mann frei, mit ihren Kindern
fliehen die Engelbergs in die Schweiz und von dort aus weiter in die USA.
Edward Engelberg war damals neun Jahre alt. Er kann sich gut an den Tag
erinnern, als das Kunstwerk verschwand. Heute lebt er in Portland, im
Bundesstaat Oregon, und fragt sich, was in den Stunden passierte, in denen
Paula Engelberg mit dem Kunstwerk unterwegs war. Wo steckt das Bild und was
ist seine Geschichte?
Die gleichen Fragen stellen sich die Reporter des Recherche-Start-ups
„Follow the Money“. Die Wirtschaftsjournalisten Christian Salewski, Carolyn
Braun, Marcus Pfeil und Fredy Gareis wollen das Gemälde der Engelbergs
finden. Helfen soll die Crowd und das Hashtag „kunstjagd“.
Seit dem 21. Mai läuft die Suche. Die Medienpartner des Start-ups, darunter
Fernseh- und Radiosender in Deutschland, Österreich und der Schweiz
berichten über den Fall und schaffen so Aufmerksamkeit. Sechs bis acht
Wochen Zeit nehmen sich die Journalisten, um den Spuren des Bildes und des
Visums zu folgen. Das Publikum kann die Fortschritte der Suche auf
www.kunstjagd.com nachvollziehen.
Jede Woche veröffentlicht das Team um Follow the Money dort eine Episode
einer Podcast-Serie und einen kurzen Film. Außerdem kann man das Projekt
auf Facebook und Twitter verfolgen, oder per WhatsApp. Mit einer Nachricht
an die Telefonnummer +4915753257833 mit dem Inhalt „Start Kunstjagd“ wird
man Teil der Suche. Denn die Idee geht nur dann auf, wenn sich möglichst
viele Leute aktiv beteiligen. „So funktioniert die Suche viel besser als
allein“, sagt Marcus Pfeil von Follow the money. „Wir spielen das Thema
über möglichst viele Kanäle und hoffen so, junge und alte Menschen zu
erreichen.“
## Die neue Glaubwürdigkeit
Kann das wirklich klappen? „Klar ist: Es ist schwer, das Gemälde mit
klassischer Recherche wiederzufinden. Wir brauchen unser Publikum, das uns
vielleicht den entscheidenden Hinweis gibt“, sagt Pfeil. Das Ergebnis der
Suche ist offen. „Das Publikum kann uns beim Scheitern und Feiern zusehen.
Und im Zweifel auch dabei, wie wir uns verrennen.“ Die Geschichte
funktioniere aber auch, wenn sie das Gemälde nicht finden. Denn das Bild
selbst ist eine Art McGuffin, ein Objekt, an dem sich die Handlung
aufhängt, das aber letztlich unwichtig ist. Die Engelbergs wollen das Bild
nicht zurück. Hört der jetzige Besitzer des Gemäldes von #kunstjagd, muss
er sich also keine Sorgen machen, dass es ihm weggenommen werden könnte.
Vielleicht ist es nicht einmal besonders wertvoll. Der Maler Otto Theodor
Wolfgang Stein schaffte es zwar mit einer Lithografie ins New Yorker Museum
of Modern Art, ist ansonsten aber eher unbekannt. „Wir haben keinen Picasso
und auch keinen Liebermann gewählt, sondern ein relativ gewöhnliches
Kunstwerk“, sagt Pfeil. Denn das Gemälde der Engelbergs ist nur ein
Beispiel, es steht stellvertretend für Millionen anderer Kunstwerke und
Wertgegenstände, die während des Nationalsozialismus geraubt oder erpresst
wurden und sich noch immer mitten unter uns befinden. Überall.
#kunstjagd wirkt so auf mehreren Ebenen. Die Suche kann als transmediales
Produkt konsumiert werden. Das Publikum kann aber auch selbst teilnehmen
und Hinweise geben. Außerdem soll die Geschichte Fragen aufwerfen. Die
Enkelin, die auf Twitter #kunstjagd folgt, redet vielleicht mal mit dem
Großvater darüber, der im Radio von der Suche nach dem Gemälde gehört haben
könnte. „Im Idealfall reflektieren Menschen über ihre Geschichte und fragen
sich, wo eigentlich ihr eigener Kronleuchter oder das Klavier herkommen“,
sagt Pfeil.
Die Reporter von „Follow the money“ wollen Journalismus als Prozess
erfahrbar machen. Der Name des Recherchekollektivs heißt nicht, dass sie
dabei reich werden. Das Projekt ist mit der Förderung der Schweizer
Stiftung für Medienvielfalt und der journalismfund.eu zwar gut finanziert,
reicht aber nicht für vier Jahresgehälter. Vielmehr weist „Follow the
money“ auf die wirtschaftliche Ausrichtung der Themen hin: die Spur des
Geldes wird verfolgt, Wertschöpfungsketten erklärt. In ihrem Pilotprojekt
folgten die Journalisten verwanzten Fernsehern auf ihrem Weg vom deutschen
Bordstein auf den afrikanischen Müllberg. „Wir wollen so authentisch wie
möglich sein“, sagt Pfeil über die Arbeitsweise, „fast nichts ist bei uns
vorproduziert, alles ist offen.“ Früher habe man ein halbes Jahr lang
recherchiert und dann das Ergebnis abgeworfen. „Aber wir wollen keine
Oberlehrer sein“, sagt Pfeil, „wir wollen, dass die Leute die Dinge mit uns
entdecken.“
Ist das die neue Glaubwürdigkeit? „Vielleicht“, sagt Pfeil, „aber diese
Methode taugt auch nicht für jede Geschichte.“
28 May 2015
## AUTOREN
Viktoria Morasch
## TAGS
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